Der DAV hat zum Fall Sami A. Stellung genommen: Die Behörde habe das VG Gelsenkirchen getäuscht. Am Freitag wird der Rechtsausschuss des Landtags NRW in einer Sondersitzung zusammenkommen.
Die umstrittene Abschiebung des als Gefährder eingestuften Sami A. aus Nordrhein-Westfalen wird am Freitag in einer Sondersitzung des Landtags-Rechtsausschusses aufgearbeitet. Die Sitzung in der sitzungsfreien Zeit hatten die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen beantragt. Der Ausschussvorsitzende Werner Pfeil (FDP) gab dem Antrag am Dienstag statt.
SPD-Landtagsfraktionsvize Sarah Philipp und Grünen-Fraktionschefin Monika Düker begründeten die Sondersitzung mit dem Verdacht auf einen Rechtsbruch durch die CDU/FDP-Landesregierung bei der Abschiebung von Sami A. nach Tunesien. Im Raum stehe auch der Verdacht, dass die Rückführung nur durch die Täuschung eines Gerichts durch Bundes- und Landesbehörden habe gelingen können.
Sami A., ein mutmaßlicher Ex-Leibwächter des getöteten Al-Kaida-Chefs Osama bin Laden, war am Freitagmorgen nach Tunesien geflogen worden. Das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen hatte am Donnerstagabend die Abschiebung verboten, den Beschluss aber erst am Freitagmorgen übermittelt. Da war das Flugzeug mit Sami A. schon in der Luft.
Es geht um ein "Grundprinzip unserer Staatsordnung"
"Es wird immer klarer, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im gerichtlichen Verfahren vor dem VG Gelsenkirchen getäuscht hat", sagte Rechtsanwalt und Notar Ulrich Schellenberg, Präsident des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe gewusst, dass eine gerichtliche Entscheidung unmittelbar bevorsteht, und habe deshalb vor dieser Entscheidung keine unumkehrbaren Fakten zu Lasten von Sami A. schaffen dürfen.
"Ich begrüße die klare Stellungnahme der Bundeskanzlerin, wonach gelten muss, was unabhängige Gerichte entscheiden", sagte Schellenberg weiter. "Es ist aber bedauerlich, dass es einer solchen Feststellung der Kanzlerin überhaupt bedurfte. Es handelt sich um ein essentielles Grundprinzip unserer Staatsordnung, das für jeden selbstverständlich sein sollte, der in unserem Land Verantwortung übernimmt." Das BAMF sei wie jede andere Behörde verpflichtet, das Gericht umfassend und vollständig zu unterrichten. Hiergegen habe das BAMF ganz offensichtlich verstoßen.
Regierungssprecher Steffen Seibert hatte am Montag das Unbehagen der Kanzlerin über den Fall erkennen lassen. "Was unabhängige Gerichte entscheiden, das muss gelten", sagte er. Dies sei "konstitutiv" für den Rechtsstaat. Sie stimme dieser Aussage "voll umfänglich" zu, betonte auch Seehofers Sprecherin. "Wäre der Beschluss bekannt gewesen, hätte diese Abschiebung nicht erfolgen dürfen." Allerdings hätten weder Seehofer noch das BAMF gewusst, dass noch eine Entscheidung des Gerichts ausstand. Ein für Dienstag in Düsseldorf geplantes Treffen von Seehofer mit NRW-Landesflüchtlingsminister Joachim Stamp war am Vorabend überraschend abgesagt worden.
VG bat nach eigenen Angaben ausdrücklich um Mitteilung
Das VG Gelsenkirchen hatte am Donnerstagabend entschieden, dass Sami A. nicht abgeschoben werden dürfe, weil nicht auszuschließen sei, dass ihm in Tunesien Folter drohe. Jedoch übermittelte es den Beschluss erst am Freitagmorgen.
Mit der unmittelbar bevorstehenden Abschiebung und dem bereits gebuchten Flug hatte das Gericht dabei nicht gerechnet. Schon Ende Juni im Verfahren um das Bestehen von Abschiebungsverboten (Az 7a L 1200/18) vermerkte der Vorsitzende Richter gegenüber dem BAMF, dass in Hinblick auf eine für August geplante Abschiebung darum gebeten werde, "dem Gericht unverzüglich mitzuteilen, falls sich in dieser Hinsicht neuere Erkenntnisse, insb. hinsichtlich eines früheren Abschiebungstermins, ergeben". Diesen Hinweis hatte der Vorsitzende bei einem Telefonat mit dem BAMF am 3. Juli wiederholt.
Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung übertrug das Gericht das Verfahren von der Einzelrichterin auf die Kammer. Das Gericht hatte bereits weitere Akten der Behörde zugezogen und am Mittwoch dem 11. Juli dazu mit dem BAMF telefoniert. Denn aus den zugezogenen Akten der Ausländerbehörde habe sich ergeben, dass für den Abend des 12. Juli 2018 eine Rückführung nach Tunesien geplant war. Die Prozesssachbearbeiterin des BAMF habe dem Gericht erklärt, ihr habe die Ausländerpersonalakte nicht vorgelegen, notierte das VG Gelsenkirchen.
Stillhaltezusage "nicht erforderlich"
Daraufhin hat das Gericht nach eigenen Angaben das BAMF aufgefordert, eine sogenannte Stillhaltezusage abzugeben, also die Zusage, bis zur Entscheidung über den Antrag nicht abzuschieben. Anderenfalls behalte die Kammer sich vor, einen "vorläufigen" Beschluss nach § 80 Abs. 5 VwGO (sog. "Hängebeschluss") zu fassen, um bis zur Entscheidung über den Antrag keine vollendeten Tatsachen entstehen zu lassen.
Am nächsten Tag, dem Donnerstag, übermittelte das BAMF vormittags die Antragserwiderung. Darin teilte es mit: "Hierauf hat sich die Beklagte telefonisch bei dem zuständigen Referat des Ministeriums für Kinder und Familie und Flüchtlinge des Landes NRW zu der von der Berichterstatterin in der Ausländerakte erwähnten für den 12. Juli 2018 angesetzte Rückführung erkundigt. Von dort wurde mitgeteilt, dass die in der Akte der Ausländerbehörde aufgeführte (vorsorgliche) Flugbuchung für den 12. Juli 2018 storniert wurde." Ferner gehe das BAMF davon aus, dass der Kläger "auch nicht rechtsschutzlos gestellt ist, da ihm im Fall einer bevorstehenden Rückführung ein gesonderter Antrag auf Eilrechtsschutz (§ 123 Abs. 1 VwGO) bezüglich möglicher Vollstreckungsmaßnahmen offen steht. Daher wird die vorgeschlagene Stillhaltezusage nicht für erforderlich erachtet."
Diese Mitteilung war nach Angaben des VG Gelsenkirchen der Auslöser, keinen Hängebeschluss zu fassen, sondern nach § 80 Abs. 5 VwGO den Fall mit ausführlicher Begründung der komplexen Sach- und Rechtslage auf 22 Seiten zu entscheiden. Der begründete und unterschriebene Beschluss wurde am Donnerstagabend um 19.20 Uhr bei der Geschäftsstelle hinterlegt. Als diese Entscheidung am Freitagmorgen per Fax an die Behörden geht, war der Flieger nach Tunis bereits in der Luft.
Nach der Abschiebung ordnete das VG an, Sami A. nach Deutschland zurückzuholen. Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration NRW bereitet derzeit eine Beschwerde gegen den Beschluss des VG Gelsenkirchen vor, die zusammen mit der Ausländerbehörde der Stadt Bochum schnellstmöglich beim Oberverwaltungsgericht Münster eingelegt werden soll.
Mit Material von dpa
Tanja Podolski, DAV-Stellungnahme zum Fall Sami A.: . In: Legal Tribune Online, 17.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29801 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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