Der aktuelle Verfassungsschutzbericht bietet wenig Anlass für Optimismus. Die Szene der sogenannten Reichsbürger wächst. Rechtsterroristische Ideologien finden im Netz Anhänger, die teilweise noch im Kinderzimmer wohnen.
Rechts, links, islamistisch, antisemitisch, diffus: Der Extremismus bekommt in Deutschland immer mehr Schattierungen. Das zeigt der Verfassungsschutzbericht für 2021, der am Dienstag von BfV-Präsident Thomas Haldenwang und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) in Berlin vorgestellt wurde.
"Das Personenpotential ist in fast allen extremistischen Phänomenbereichen erneut angestiegen", sagte Haldenwang bei der Vorstellung des Berichts. Die Verfassungsfeinde seien sehr heterogen. "Auf der einen Seite sehen wir diejenigen, die ihre Ablehnung gegen den Staat vereint, auf der anderen Seite beobachten wir selbstradikalisierte einzeln agierende Täter und digitalen Extremismus im Netz", so Haldenwang weiter. Auffällig sei die in nahezu jedem Phänomenbereich anzutreffende Ausbreitung der Desinformation.
"Die größte extremistische Bedrohung für unsere Demokratie ist weiterhin der Rechtsextremismus", sagte Faeser. Die Zahl der Menschen mit rechtsextremistischen Einstellungen ist laut dem Bericht erneut leicht gestiegen. Das Personenpotenzial im rechtsextremistischen Spektrum wuchs demnach binnen eines Jahres um rund 1,8 Prozent auf 33.900 Menschen an.
Der leichte Anstieg hat allerdings nichts damit zu tun, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) inzwischen die AfD als Verdachtsfall im Bereich des Rechtsextremismus einstuft. Denn der Bericht deckt nur die Entwicklung im Jahr 2021 ab, und die Partei hatte im vergangenen Jahr präventiv gegen die Beobachtung als Verdachtsfall geklagt. Das Urteil des Kölner Verwaltungsgerichts, das dem Bundesamt jetzt die Verdachtsfall-Beobachtung gestattet, erging erst im März 2022.
Auch Minderjährige radikalsieren sich im Internet
Die AfD-Nachwuchsorganisation (Junge Alternative/JA) und die "Anhänger des formal aufgelösten Personenzusammenschlusses "der Flügel" (Verdachtsfall)" werden im Bericht als "Sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien" aufgeführt. Dieser Kategorie rechnete der Verfassungsschutz im vergangenen Jahr 7.500 Menschen zu. Damit war das Personenpotenzial hier um 1.100 Personen geringer als im Vorjahr. Im Urteil des Kölner Gerichts hieß es: "Neben dem verfassungsfeindlichen Volksverständnis der JA ist in den Äußerungen der Funktionäre und Landesverbände der JA auch eine massive ausländerfeindliche Agitation festzustellen." Gegen die Verdachtsfall-Beobachtung hat die AfD jetzt Berufung eingelegt.
Versuche von Rechtsextremisten, die Corona-Pandemie und die Flutkatastrophe im Juli zur Gewinnung von Sympathisanten zu nutzen, waren nach Einschätzung des Verfassungsschutzes letztlich nicht von Erfolg gekrönt. Knapp 40 Prozent der Rechtsextremisten hält der Verfassungsschutz für gewaltorientiert.
Sorge bereitet dem Verfassungsschutz, dass die in den USA entstandene rechte "Siege"-Ideologie in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewinnt - gerade unter Minderjährigen, die sich im Internet radikalisieren. Die Anhänger dieser Ideologie wollten "durch gezielte terroristische Akte gegen Infrastruktur, Angehörige von Minderheiten und demokratische politische Führungspersönlichkeiten" einen Zusammenbruch des "verhassten demokratischen Systems" herbeiführen.
"de.indimedia" gesichert linksextremistisch
Laut Bericht ist auch die Zahl der "Reichsbürger" angewachsen: von rund 20.000 auf nunmehr 21.000 Anhänger. Hier spielten wohl die Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen eine Rolle. Die sogenannten Reichsbürger und Selbstverwalter zweifeln die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland an. Sie weigern sich oft, Steuern zu zahlen. Zu den rund 30 überregional aktiven Gruppierungen zählt der Inlandsgeheimdienst unter anderem Gruppen mit Namen wie "Staatenbund Deutsches Reich" oder "Königreich Deutschland".
Einen Zuwachs um knapp 1,2 Prozent auf nunmehr 34.700 Menschen beobachtet der Verfassungsschutz im Linksextremismus. Der Anteil der Linksextremisten, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ausüben oder dies zumindest billigen, lag demnach im vergangenen Jahr bei knapp 30 Prozent. Zunehmend professionell ist aus Sicht des Verfassungsschutzes die Aufklärung rechtsextremistischer Netzwerke und vermeintlicher Gegner durch sogenannte Antifa-Recherchegruppen. "Vereinzelt bestehen auch Kontakte in Verwaltungsstrukturen, über die rechtswidrig Personendaten oder vertrauliche Informationen erlangt werden können", heißt es im Jahresbericht.
Wie aus dem Bericht hervorgeht, beobachtet der Verfassungsschutz die Internet-Plattform "de.Indymedia" mittlerweile als gesichert linksextremistische Bestrebung. Der Inlandsgeheimdienst hatte die Plattform, auf der regelmäßig Bekennerschreiben, Aktionsaufrufe sowie Adressen mutmaßlicher politischer Gegner veröffentlicht werden, vor rund zwei Jahren als Verdachtsfall im Bereich des Linksextremismus eingestuft. Zur Begründung führte die Kölner Behörde damals unter anderem an, dass nach Zusammenstößen zwischen Autonomen und der Polizei in Leipzig auf der Website versucht worden sei, die Gewalt zu rechtfertigen. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Januar 2020 das Verbot der Internet-Plattform "Linksunten.Indymedia" bestätigt, das 2017 vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ausgesprochen worden war. Laut Verfassungsschutz hatten sich die Aktivitäten nach dem Verbot von dieser Plattform hin zu "de.Indymedia" verlagert.
Neuer Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates""
Die Anhängerschaft islamistischer Gruppen ist nach Einschätzung des BfV erstmals seit vielen Jahren leicht geschrumpft: um rund 1,5 Prozent auf 28.290 Menschen. An Attraktivität verloren besonders salafistische Gruppen. Vor allem von dschihadistisch motivierten Einzeltätern und Kleinstgruppen gehe aber nach wie vor eine große Gefahr aus, warnt der Verfassungsschutz.
Erstmals in einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt ist das im April 2021 neu eingerichtete Beobachtungsobjekt "Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates". In dieser Kategorie fasst das BfV sehr unterschiedliche Gruppierungen und Akteure jenseits des klassischen Links-Rechts-Schemas zusammen: Gruppen und Einzelpersonen, die bestimmte, teilweise antisemitisch unterlegte Verschwörungstheorien verbreiten, das demokratische Staatswesen in Zweifel ziehen oder dieses rundheraus ablehnen. Dazu, wie groß die Zahl der Anhänger dieser heterogenen Szene ist, gibt es noch keine Einschätzung.
Eine weitere ernsthafte Bedrohung liegt laut dem Bericht in den zunehmend komplexen geheimdienstlichen Aktivitäten anderer Staaten sowie Cyberspionageangriffe. "Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Bedrohungslage eine neue Dimension gewonnen", sagte Faeser. Hauptakteure sind laut Bericht nach wie vor Russland, China, der Iran und die Türkei. Russische Spionage war 2021 den Angaben zufolge vor allem auf Fragen der Energieversorgung und europäische Diskussionsprozesse zu den EU-Sanktionen fokussiert. Chinesische Cyberakteure versuchten seit einigen Jahren vermehrt, personenbezogene Daten, etwa von Telekommunikationsunternehmen, Versicherungen, Reiseunternehmen, Online-Diensten oder Behörden zu erlangen. Auch mit dem Ziel, regierungskritische Menschen "zu überwachen und zu verfolgen".
dpa/acr/LTO-Redaktion
Verfassungsschutzbericht 2021: . In: Legal Tribune Online, 07.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48672 (abgerufen am: 03.10.2024 )
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