2009 wurde die deutsche Eisschnellläuferin Claudia Pechtstein wegen Indizien, die auf Doping hinwiesen, gesperrt. Vier Jahre später erbrachten Mediziner den Gegenbeweis. Der BGH entscheidet am Dienstag über den Schadensersatzanspruch.
Die New York Times schreibt von erwarteten "Schockwellen" für die Sportgerichte, Experten vergleichen die mögliche Entscheidung im ersten Doping-Prozess vor dem Bundesgerichtshof (BGH) schon mit dem Bosman-Urteil im Profifußball: Der Rechtsstreit zwischen Eisschnelllauf-Olympiasiegerin Claudia Pechstein und dem Eislauf-Weltverband ISU vor dem höchsten deutschen Zivilgericht könnte Wirkung für die Sportgerichtsbarkeit haben, weit über den Fall Pechstein hinaus.
Die ISU hatte im Januar 2015 den Prozess am Oberlandesgericht München verloren und wandte sich mit ihrer Revision an den BGH. Ab 11.00 Uhr wird am Dienstag der Kartellsenat verhandeln - mit möglicherweise historischer Tragweite.
Es geht um die Frage, ob die deutschen Gerichte zuständig sind. Vor allem aber wird der BGH darüber zu entscheiden haben, ob eine von Pechstein unterzeichnete Schiedsvereinbarung über die alleinige Zuständigkeit des Court of Arbitration for Sports (CAS) in Lausanne wirksam ist. Das OLG München hatte die 2009 getroffene Vereinbarung zwischen Pechstein und der ISU für unwirksam erklärt, die Entscheidung des Internationalen Sportgerichtshofes CAS zu ihrer Sperre erkannten die Münchner Richter nicht an.
Unterzeichnen der Schiedsvereinbarung ohne Alternative
Der Internationale Sportgerichtshof mit Sitz in Lausanne war am 25. November 2009 dem Urteil des Weltverbandes ISU gefolgt und hatte die Zwei-Jahres-Sperre der Berlinerin wegen schwankender Retikulozyten-Blutwerte ohne Doping-Beweis bestätigt.
Das Landgericht (LG) München I war noch davon ausgegangen, dass der Spruch des CAS anerkannt werden müsse, obwohl die zugrundeliegende Schiedsvereinbarung zwischen Pechstein und den Verbänden nichtig sei, weil die Sportlerin keine andere Wahl gehabt habe, als diese zu unterzeichnen.
Pechstein will mit dem Gang nach Karlsruhe also nicht nur ihre Chance auf fünf Millionen Euro Schadensersatz für ihre Dopingsperre ohne positiven Befund erhöhen, sondern damit die internationale Sportgerichtsbarkeit auf den Kopf stellen.
Sport- vs. Zivilgerichtsbarkeit - wer entscheidet wann?
Rückenwind erhält Pechstein durch Sportrechtler. "Das OLG-Urteil halte ich für richtig. Und richtige Urteile sollten auch vor dem BGH halten", sagte Michael Lehner der Deutschen Presse-Agentur.
"Sportgerichte bleiben unersetzbar, aber sie müssen ausgewogener entscheiden", meint der Heidelberger Anwalt, der auf Sportrecht spezialisiert ist. Er fordert Reformen im internationalen Sportgerichtshof. Es könne nicht sein, dass der Vorsitzende Richter vom CAS selbst bestimmt wird und Urteile der Zustimmung des CAS-Generalsekretärs obliegen.
Mario Merget von der Berliner Kanzlei CMS Hasche Sigle, der im Sportrecht promovierte, hält ein Urteil pro Pechstein gleichfalls für realistisch. Er warnt aber, dass dann "durch die Wahlmöglichkeit zwischen Sport- und Zivilgerichten eine einheitliche Doping-Rechtssprechung auf Jahre kompliziert" würde. Auch Dr. Markus H. Schneider, Anwalt und Lehrbeauftragter für Sportrecht, kommentierte auf LTO, dass Schiedsgericht für den Sport nicht nur sinnvoll, sondern notwendig seien - aber Pechsteins Streit um Grundrechte gebe Anlass, eine bewährte Praxis im Sport zu überprüfen und zu revidieren: "Athleten darf nicht einfach vor Erteilung einer Starterlaubnis eine nicht verstandene Athletenerklärung vor die Nase gehalten werden. Motto: "friss oder stirb", "unterzeichne oder geh heim".
"Schockwellen" durch die Sportschiedsgerichtsbarkeit
Rechtsbeistand Thomas Summerer, der gemeinsam mit BGH-Anwalt Gottfried Hammer die 40 Seiten umfassende Revisions-Erwiderung aufsetzte, ist optimistisch: "Ich war nie ganz pessimistisch, aber die Ausgangslage war verkorkst durch unsägliche Entscheidungen der Schweizer Sportgerichte. In der Schweiz werden die Sportverbände auf Händen getragen, was man an den jahrzehntelangen Privilegien für die FIFA gut sehen kann", bekräftigte Summerer.
"Dieses Urteil wird Geschichte schreiben", ist Summerer sich sicher. "Wenn Claudia gewinnt, heißt das aber nicht, dass die Sportgerichtsbarkeit tot ist. Es wird die Sportgerichtsbarkeit nicht zerstören, aber grundlegend reformieren", sagte der Münchner, der Sprinterin Katrin Krabbe vor 15 Jahren im Prozess gegen den Leichtathletik-Weltverband IAAF vertrat und 1,5 Millionen Mark für sie erstritt.
Historische Dimensionen erkennen auch die von der "New York Times" befragten Experten im ersten Doping-Prozess des BGH. "Das wird einen ebensolchen Effekt haben wie die Bosman-Entscheidung", sagte Richard Ings, der Ex-Leiter der australischen Anti-Doping-Agentur, dem Blatt.
1995 hatte die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Fall des belgischen Profis die Transfermodalitäten im Fußball revolutioniert. Mike Morgan, Mitbegründer von Morgan Sports Law, erklärte, dass eine BGH-Entscheidung zugunsten der Sportlerin "definitiv Schockwellen durch die Sportschiedsgerichtsbarkeit" senden würde.
Die ISU hatte Pechstein 2009 per indirektem Beweis gesperrt, weil sie ihre schwankenden Blutwerte als Indiz für Doping einschätzte. Vor drei Jahren führten internationale Hämatologen den Nachweis, dass ihre Retikulozytenwerte durch eine geerbte Anomalie begründet sind.
pl/LTO-Redaktion
Mit Materialien von dpa
Pechstein vor dem BGH: . In: Legal Tribune Online, 07.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18701 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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