Vor neun Monaten schaute die Welt mit Entsetzen nach Halle. Der Anschlag auf eine Synagoge gehört zu den schwersten antisemitischen Straftaten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nun hat der Prozess begonnen - mit Anfangsproblemen.
Bereits um halb sieben, dreieinhalb Stunden vor dem geplanten Verhandlungsbeginn, stehen die ersten Menschen vor dem Gerichtsgebäude in Magdeburg. Das Interesse an dem Prozess zum rechtsterroristischen Anschlag auf die Synagoge von Halle vor rund neun Monaten ist groß - auch international. Während Besucher, die noch einen der raren Plätze im Saal ergattern wollen, in der Sonne warten, fährt ein Konvoi von Polizei- und Justiztransportern mit Blaulicht und Sirenen vor - unter hohen Sicherheitsvorkehrungen wird der Angeklagte zum Gericht gebracht.
Knapp vier Stunden später wird der 28-Jährige an Händen und Füßen gefesselt von maskierten Justizbeamten in den Gerichtssaal geleitet. Gekleidet mit schwarzer Jacke, Jeans und Turnschuhen schaut Stephan Balliet ernst in die Kameras der anwesenden Medienvertreter. Mehr ist von der Mimik nicht zu erkennen, weil der Angeklagte wegen der Corona-Pandemie einen Mundschutz trägt. Gegen 12.00 Uhr, rund zwei Stunden später als geplant, startet der Prozess zu dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 schließlich.
Der Generalbundesanwalt hat im April 2020 Anklage zum Oberlandesgericht (OLG) Naumburg erhoben. Das Verfahren wird vor dem 1. Strafsenat (Staatsschutzsenat) des Oberlandesgerichts geführt. Die Hauptverhandlung findet im Gebäude des Landgerichts Magdeburg statt.
"Für uns ist so ein Verfahren natürlich auch eine besondere Situation", sagt die Vorsitzende Richterin Ursula Merten und entschuldigt sich für die Verspätung und die Wartezeiten. Wegen der strengen Sicherheitskontrollen hat es bis zu drei Stunden gedauert, bis Prozessbeobachter die Einlasskontrolle hinter sich gebracht haben, wie ein dpa-Reporter vor Ort beobachtet. Bei einem Probelauf in der vergangenen Woche sei noch nicht einkalkuliert gewesen, dass sich auch Medienvertreter einer umfangreichen Sicherheitskontrolle unterziehen müssen, jetzt sei das aber der Fall, erklärte Gerichtssprecher Wolfgang Ehm.
121 Seiten Anklage
Es ist nicht die erste Panne in der juristischen Aufarbeitung des Attentats: Anfang Juni war bekannt geworden, dass der Angeklagte am Pfingstwochenende während eines Hofgangs zeitweise unbewacht gewesen war und die Situation für einen Fluchtversuch genutzt hatte, der jedoch scheiterte. Im Anschluss wurde Stephan Balliet in die Justizvollzugsanstalt Burg bei Magdeburg verlegt.
Der Anschlag am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur gehört zu den schwersten antisemitischen Straftaten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Laut Bundesanwaltschaft wollte der Attentäter möglichst viele der 52 Besucher der Synagoge töten. Er konnte sich jedoch auch mit Waffengewalt keinen Zutritt zum Gebäude verschaffen. Daraufhin tötete er eine Passantin vor der Synagoge und einen Mann in einem Dönerimbiss. Außerdem verletzte er auf seiner Flucht mehrere Menschen, bevor ihn Polizisten gut eineinhalb Stunden nach Beginn der Tat etwa 50 Kilometer südlich von Halle festnehmen konnten.
Insgesamt werden dem Sachsen-Anhalter in der 121-seitigen Anklage 13 Straftaten zur Last gelegt, darunter Mord und versuchter Mord. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, "aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus einen Mordanschlag auf Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens" geplant zu haben, so die Bundesanwälte. Im Falle einer Verurteilung drohen dem Mann, der die Vorwürfe im Wesentlichen eingeräumt hat, eine lebenslange Freiheitsstrafe und eine anschließende Sicherheitsverwahrung.
Tonaufnahmen für historische und wissenschaftliche Zwecke
Von der historischen Dimension des Prozesses zeugt auch ein weiteres Detail: Der gesamte Prozess wird auf Tonträger aufgenommen. Als deutschlandweit erstes Gericht entschied sich das OLG kurz vor Prozessbeginn, von der im April 2018 in § 169 Abs. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) eingeführten Möglichkeit gebrauch zu machen, Tonaufnahmen des Prozesses zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken anzufertigen. Nach der Regelung können die Aufnahmen sodann dem zuständigen Landes- oder Bundesarchiv angeboten werden. Dort können sie für die Nachwelt archiviert werden.
Am Dienstagmorgen sprach in Magdeburg auch die Nebenklägerin Christina Feist, die während des Anschlags in der Synagoge in Halle war. Sie wies auf einen alltäglichen Antisemitismus in Deutschland hin und forderte Zivilcourage. "Antisemitismus und rechtsradikale Ideologie sind in Deutschland kein neues Phänomen. Antisemitische Übergriffe sind ein trauriger Teil unseres alltäglichen Lebens und sind somit Symptome eines zutiefst in der deutschen Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus." Und weiter: "Es ist allerhöchste Zeit, dass wir diese schamvolle Wahrheit endlich anerkennen." Jeder Angriff sei ein Angriff auf die Demokratie, auf die offene Gesellschaft. Zivilcourage und Einmischen seien gefragt.
Deutlich wurde auch schon vor dem Prozessbeginn, dass die Nebenkläger sich vor allem eine Beleuchtung der Hintergründe erhoffen. Es gehe darum, zu klären, wie sich der Täter so radikalisieren konnte, sagte Juri Goldstein, Anwalt von Besuchern der Jüdischen Gemeinde in Halle. Es gehe um die Frage: Wie konnte jemand so viel Hass entwickeln "auf die Menschen, die er gar nicht kennt". "Wir werden versuchen, diese antisemitische Straftat so gut wie möglich aufzuklären", erklärte Goldstein.
Die größte Herausforderung sei der Prozess selbst, so der Nebenkläger-Vertreter. "Sie müssen bedenken, es ist eine der größten und schwerwiegendsten antisemitisch motivierten Straftaten, die wir in den vergangenen Jahrzehnten hatten. Das ist Aufgabe genug."
Angeklagter bereut Schüsse auf Passantin
Seine rassistische Gesinnung stellte der 28-Jährige während des Prozesses offen zur Schau. Schon bei Fragen zu seinem persönlichen Werdegang sprach er am Dienstag mehrfach abwertend über Zuwanderer in seinem Dorf im Süden Sachsen-Anhalts. Gute Freunde habe er nicht gehabt, er sei auch in keinem Verein gewesen. Er habe vor allem Interesse am Internet gehabt, weil man sich dort frei unterhalten könne. "Man fragt sich natürlich, wie man solche Taten verhindern kann, ich habe da natürlich kein Interesse dran", sagte Balliet.
Nach dem Abitur habe er einen verkürzten Wehrdienst absolviert, sei sechs Monate Panzergrenadier in Niedersachsen gewesen. Er habe den Wehrdienst anstrengend und doof gefunden, es sei "keine richtige Armee" gewesen. Sein Studium habe er krankheitsbedingt abgebrochen, danach habe er in den Tag hinein gelebt. "Nach 2015 hab ich entschieden, nichts mehr für diese Gesellschaft zu tun", sagte er.
Er bereue aber, eine Passantin erschossen zu haben. "Es tut mir sehr leid, dass ich sie erschossen hab", sagte Balliet. Zum ersten Mal während seiner Aussage versagte ihm dabei leicht die Stimme. Er habe die Frau erschossen, als er die Tür zur Synagoge nicht öffnen konnte. Er bezeichnete die Schüsse als "Kurzschlussreaktion". Die 40-Jährige habe ihn von der Seite angesprochen.
In der Verlesung des Anklagesatzes hieß es zuvor: Weil er die 40-Jährige als minderwertig empfunden habe, habe er ihr das Recht auf Leben abgesprochen. Sein zweites Opfer, einen 20-Jährigen, habe er irrtümlich für einen Muslim gehalten.
dpa/acr/LTO-Redaktion
Prozessbeginn zu Anschlag von Halle: . In: Legal Tribune Online, 21.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42264 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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