Im weltweit ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien ist der Angeklagte Ex-Offizier zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er soll im syrischen Bürgerkrieg Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.
Im nach Angaben der Bundesanwaltschaft weltweit ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien ist der Angeklagte zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz sprach den Syrer Anwar R. am Donnerstag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig. Der Angeklagte hatte sich selbst als unschuldig bezeichnet, seine Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.
Der im April 2020 begonnene Prozess ist somit am 108. Verhandlungstag zu Ende gegangen. Das Verfahren mit mehr als 80 Zeuginnen und Zeugen sowie einer Reihe von Folteropfern als Nebenkläger und Nebenklägerinnen hatte international Aufsehen erregt.
Nach Überzeugung des Koblenzer OLG-Staatsschutzsenats hatte Anwar R. 2011 und 2012 in der Anfangsphase des syrischen Bürgerkrieges Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Der 58-Jährige sei in einem Gefängnis des Allgemeinen Geheimdienstes in der syrischen Hauptstadt Damaskus als Vernehmungschef für die Folter von mindestens 4.000 Menschen verantwortlich gewesen. Mindestens 30 Gefangene sind währenddessen laut Bundesanwaltschaft gestorben.
"Gerechtigkeit muss und darf kein Traum für uns bleiben"
Ruham Hawash zufolge, syrische Überlebende der Al-Khatib-Abteilung und Nebenklägerin im Verfahren gegen Anwar R., sei dieses Urteil wichtig für alle Syrerinnen und Syrer, die unter den Verbrechen des Assad-Regimes gelitten haben und noch immer leiden. "Es zeigt uns: Gerechtigkeit muss und darf kein Traum für uns bleiben", so Hawash.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Bundesanwaltschaft hatte lebenslange Haft und die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gefordert, was eine Haftentlassung nach 15 Jahren nahezu ausgeschlossen hätte.
Das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafrecht erlaubt es, auch hierzulande mögliche Kriegsverbrechen von Ausländern in anderen Staaten zu verfolgen. Anwar R. war nach seiner Flucht nach Deutschland von Folteropfern erkannt und 2019 in Berlin festgenommen worden.
Update: Niedrige Beweggründe, kein entschuldigender Notstand
Das OLG gab nun in einer Pressemitteilung bekannt, dass es R. wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Form von Tötung, Folter, schwerwiegender Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und sexueller Nötigung in Tateinheit mit Mord in 27 Fällen, gefährlicher Körperverletzung in 25 Fällen, besonders schwerer Vergewaltigung, sexueller Nötigung in zwei Fällen, über eine Woche dauernder Freiheitsberaubung in 14 Fällen, Geiselnahme in zwei Fällen und sexuellen Missbrauchs von Gefangenen in drei Fällen verurteilte.
Dem Angeklagtem habe die Vernehmungsunterabteilung der für den Raum Damaskus zuständigen Abteilung 251 des Allgemeinen Geheimdienstes – auch bezeichnet als Al-Khaib-Abteilung – unterstanden.
Der Senat sei zu der Feststellung gelangt, dass in dem dort angeschlossenen Gefängnis im Zeitraum von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 mindestens 4.000 Gefangene inhaftiert waren. Die Häftlinge seien bei ihren Vernehmungen auf verschiedene Weise, etwa durch Schläge mit Kabeln oder Stöcken, Tritte und Elektroschocks, brutal gefoltert worden. Um die Gefangenen zu erniedrigen und zu demütigen, sei auch sexuelle Gewalt eingesetzt worden.
Sturz des Regimes sollte verhindert werden
Im Tatzeitraum seien im Al-Kathib-Gefängnis infolge der Misshandlungen 27 Menschen zu Tode gekommen. Der Senat sieht insoweit in der Person des Angeklagten das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes erfüllt. Der Angeklagte habe in seinem Dienst für den syrischen Geheimdienst friedliche politische Gegner bis hin zu ihrer physischen Vernichtung bekämpfen wollen. Dieser Kampf habe dem Ziel gedient, den Sturz des totalitären Regimes zu verhindern. Auf dieser Weise habe der Angeklagte zugleich seine angesehene soziale Stellung als Oberst des Allgemeinen Geheimdienstes und die damit verbundenen Privilegien erhalten wollen. Hierin hat der Senat niedrige Beweggründe erkannt.
Anders als die Verteidigung habe der Senat keinen entschuldigenden Notstand gesehen. Es sei in Anbetracht der Schwere der verübten Straftaten für den Angeklagten zumutbar gewesen, sich den Taten ohne hohes persönliches Risiko zu entziehen. Die Verteidigung habe noch die Auffassung vertreten, dass für R. und seine Familie ein Verlassen seines Postens und eine Abkehr vom syrischen Regime lebensgefährlich geworden wäre. Nach Überzeugung des Senats hätte der Angeklagte Syrien jedoch bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt verlassen können. Er sei erst im Jahr 2012 geflohen.
Von der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld des Angeklagten habe der Senat nach einer umfassenden Abwägung abgesehen. Berücksichtigt habe er auch, dass die Taten zehn Jahre zurückliegen und dass der Angeklagte nicht eigenhändig Gewalt ausgeübt habe. Zudem habe er sich schließlich vom Regime losgesagt und hätte bezüglich der Tötungen nur bedingten Vorsatz gehabt.
Update: Revision beim BGH angekündigt
Die Verteidigung kündigte Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) an. Er sei mit dem Richterspruch "nicht zufrieden", sagte Verteidiger Yorck Fratzky am Donnerstag in Koblenz. Der angeklagte Anwar R. sei stellvertretend für das Regime verurteilt worden. "Die Verteidigung hat diese persönliche Schuld nicht gesehen."
Positiv hingegen nahm die Bundesanwaltschaft das Urteil auf. Es sei "ein wichtiges Signal für die Opfer", sagte Oberstaatsanwalt Jasper Klinge. "Der Angeklagte war Teil des Systems." Im Prozess hätten Folteropfer von unvorstellbarem Leid berichtet. Daher sei es wichtig, dass solche Taten nicht ungesühnt blieben. "Heute ist ein besonderer Tag für das Völkerrecht und auch für uns."
pdi/LTO-Redaktion
Mit Material der dpa
OLG Koblenz: . In: Legal Tribune Online, 13.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47194 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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