Die Bewertungsmethoden von Rating-Agenturen sind komplex, verworren, und im Einzelnen ohnehin nicht bekannt. Vor dem OLG Frankfurt a.M. musste eine Agentur jedoch erklären, warum sie einem Unternehmen, bei dem es noch nie zu Zahlungsausfällen gekommen war, die schlechtestmögliche Prognose gegeben hatte. Dabei hatte sie sich auf ein einziges Kriterium verlassen - das zudem vollkommen ungeeignet war.
Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat mit einer am Montag bekannt gewordenen Entscheidung einer Ratingagentur untersagt, einem im Rhein-Main Gebiet ansässigen Unternehmen eine schlechte Bewertung (Scoring) zu erteilen (Urt. v. 07.04.15, Az. 24 U 82/14).
Das klagende Unternehmen ist seit den 1990-er Jahren im Bereich der Luftfahrtindustrie tätig. Eine Insolvenz oder Zahlungsausfälle sind bisher nicht vorgekommen. Die beklagte Wirtschaftsauskunft sammelt Informationen und Analysen über Unternehmen und erstellt hieraus Bonitätsauskünfte, die sie Dritten auf Anfrage zur Verfügung stellt.
Das Luftfahrtunternehmen bewertete sie mit dem "Risikoindikator 4", dem schlechtesten von vier Werten. Ferner heißt es in der Bewertung der Klägerin: "Das Ausfallrisiko wird als hoch eingestuft" sowie "Sicherheiten empfohlen". Das Unternehmen klagte auf Unterlassung der schlechten Risikoeinschätzung.
Das macht den Fall untypisch, erklärt Prof. Dr. Thomas M. J. Möllers von der Universität Augsburg. "Die Entscheidung ist insoweit bemerkenswert, als es noch keine Urteile gegen Ratingagenturen gibt und alle, auch weltweit, darauf warten, ob die Agenturen für falsche Bewertungen Schadensersatz zu leisten haben. Die Frage nach Schadensersatz aber stellt sich typischerweise, weil Dritte auf die Bewertung der Agentur vertraut haben. Der Fall, dass der Bewertete selbst klagt, und dann eben auf Unterlassung der Bewertung, ist hingegen eher ungewöhnlich", so der Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung.
Rating "verantwortungslos oberflächlich"
Das in erster Instanz zuständige Landgericht folgte der Verteidigung der Agentur und wies die Klage ab, weil es sich bei den Bewertungen lediglich um Werturteile handele, die, anders als Tatsachenbehauptungen, einer exakten Nachprüfung nicht zugänglich seien.
Dieser Argumentation, die durchaus üblich ist im Rahmen von Streitigkeiten über die Richtigkeit von an Dritte abgegebenen Wirtschaftsnachrichten, wollte sich das OLG nicht anschließen. Das OLG Frankfurt kassierte auf die von dem Luftfahrtunternehmen eingelegte Berufung das Urteil und verurteilte die Wirtschaftsauskunft, das schlechte Scoring zu unterlassen.
Zur Begründung führen die Frankfurter Richter aus: Die abgegebene äußerst negative Bewertung der Kreditwürdigkeit des Unternehmens sei ohne jede sachliche Basis. Das Vorgehen der beklagten Agentur bei der Abgabe ihrer Bewertungen sei "von einer verantwortungslosen Oberflächlichkeit geprägt" und verletze das Recht des Luftfahrtunternehmens, keine rechtswidrigen Eingriffe in ihren Gewerbebetrieb zu erleiden. Die OLG-Richter bewerten dieses also höher als das Recht der Agentur auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG.
2/2: OLG Frankfurt: Rechtsform allein ist kein Argument
Maßstab für das Verhalten von Ratingagenturen sei § 28b Bundesdatenschutzgesetz, so der Senat weiter. Nach dieser Vorschrift dürfe ein "Wahrscheinlichkeitswert für ein bestimmtes zukünftiges Verhalten erhoben oder verwendet werden, wenn die zur Berechnung des Wahrscheinlichkeitswertes genutzten Daten unter Zugrundelegung eines wissenschaftlich anerkannten mathematisch-statistischen Verfahrens nachweisbar für die Berechnung der Wahrscheinlichkeit des bestimmten Verhaltens erheblich sind".
Zwar seien die sogenannten "Scoreformeln" selbst sowie die Basisdaten nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) als geschütztes Geschäftsgeheimnis der Ratingagentur anzusehen. Vorliegend erwecke diese bei ihren Kunden aus der Wirtschaft aber den Eindruck, verschiedenste Variablen über das bewertete Unternehmen umfassend zu verwerten.
Genauer betrachtet stütze sie, so die Frankfurter Richter, die schlechte Bewertung des klagenden Unternehmens jedoch einzig und allein darauf, dass es sich bei diesem nicht um eine Kapitalgesellschaft, sondern einen eingetragenen Einzelkaufmann handele. Das reiche nicht aus, da die Verwertung dieses Einzelfaktors dem Maßstab einer komplexen, auf statistischen und wissenschaftlichen Algorithmen beruhenden Bewertung nicht genüge.
Für Thomas M. J. Möllers ist das schlüssig. "Wenn die Ratingagentur ihre Bewertung tatsächlich maßgeblich darauf gestützt hat, dass das bewertete Unternehmen ein Einzelkaufmann ist und keine Kapitalgesellschaft, ist das selbstverständlich nicht nur nicht ausreichend, sondern sogar umkehrbar - schließlich haftet ein Einzelkaufmann mit seinem persönlichen Vermögen, er könnte insofern sogar als solider oder gar seriöser angesehen werden".
Noch kein Katalog von zulässigen Bewertungskriterien
Ob die Entscheidung aus Frankfurt neue Erkenntnisse für die Minimal-Vorausssetzungen bringt, welche die Bewertungen von Ratingagenturen erfüllen müssen, bezweifelt der Experte, der die Rechtsentwicklungen zu Ratingagenturen seit Jahren begleitet. "Das Verfahren vor dem OLG ist insofern ungewöhnlich, als die Agentur ihre Bewertung maßgeblich auf das - in dieser Form denkbar ungeeignete - Kriterium der Rechtsform gestützt hat".
Normalerweise seien die Bewertungsverfahren dagegen so komplex, dass sie kaum jemand durchschaut. Und selbst, wenn die Agentur die Kriterien offenlegen muss, weil ein Gericht diese nicht als ihr Geschäftsgeheimnis betrachtet, berufen sich die Dienstleister in der Regel darauf, dass sie Aussagen über künftige Ausfallwahrscheinlichkeiten treffen und Prognosen immer ein Unsicherheitsfaktor innewohnt.
Auch wenn es mittlerweile nach der Finanzkrise EU-weite Regelungen zur Haftung von Ratingagenturen gibt, knüpft auch diese sogenannte Rating-Verordnung für die Haftung überwiegend an formale Kriterien an. Es geht also dort weniger um sachlich fehlerhafte Ratings, erläutert Rechtswissenschaftler Möllers. Dabei gibt es solche fehlerhaften Ratings seiner Ansicht nach sehr wohl. Ein ausgearbeiteter Katalog von zulässigen oder unzulässigen Bewertungskriterien aber existiert jedenfalls derzeit noch nicht.
Möllers hält es für die Aufgabe der Wissenschaft und der Justiz, herauszuarbeiten, wie vertretbar und nachvollziehbar die Begründung einer Agentur ist. Das aktuelle Urteil aus Frankfurt wird dabei seiner Meinung nach eher wenig helfen: "Das Urteil des OLG Frankfurt ist vor allem deshalb bedeutsam, weil es so eindeutig ist bezüglich der fehlenden Begründung. Spannend wird es aber, wenn zum Beispiel drei oder vier Bewertungskriterien einer Agentur überzeugend sind, der Rest hingegen nicht. Dann gilt es, herauszuarbeiten, inwieweit die Gerichte dem Rating-Unternehmen ein Ermessen zugestehen und was sie noch für vertretbar halten werden".
pl/acr/LTO-Redaktion
Pia Lorenz, OLG Frankfurt verurteilt Ratingagentur: Unternehmensbewertung "verantwortungslos oberflächlich" . In: Legal Tribune Online, 14.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15221/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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