Wegen Beihilfe zum Mord in 3.322 Fällen ist ein mutmaßlicher Ex-Wachmann des KZ Sachsenhausen angeklagt worden. Nachdem ein Sachverständiger ihn zunächst für verhandlungsunfähig erklärt hatte, könnte er nun doch verurteilt werden.
Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat einen Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts (LG) Hanau aufgehoben, nachdem die Staatsanwaltschaft Gießen und mehrere Nebenkläger:innen dagegen Beschwerde eingelegt hatten. Das LG muss nun erneut über die Verhandlungsfähigkeit des 100-jährigen Mannes entscheiden, der als ehemaliger KZ-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord angeklagt wurde (OLG, Beschl. v. 22.10.2024, Az.: 7 Ws 169/24).
Der heute 100-Jährige wurde im Sommer 2023 wegen Beihilfe zum Mord in 3.322 Fällen vor der Jugendkammer des LG Hanau angeklagt. Er soll als Heranwachsender Wachmann im KZ Sachsenhausen gewesen sein und dort zwischen Juli 1943 und Februar 1945 Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord an Tausenden Häftlingen geleistet haben. Als Angehöriger des SS-Wachbataillons soll er unter anderem für die Bewachung von Häftlingen, die Überführung von ankommenden Häftlingen vom Bahnhof in das Hauptlager und die Bewachung von Häftlingstransporten zuständig gewesen sein. Während des Tatzeitraums sollen mindestens 3.318 Häftlinge an den Folgen der im KZ herrschenden Verhältnisse gestorben sowie durch Erschießungen und den Einsatz von Giftgas getötet worden sein.
Nachdem ein Sachverständigengutachten im Februar 2024 die Verhandlungs-, Vernehmungs- und Reiseunfähigkeit des Angeschuldigten festgestellt hatte, hatte das LG Hanau die Eröffnung der Hauptverhandlung zunächst abgelehnt (Beschl. v. 06.05.2024, Az.: 2 Ks 501 Js 33635/22 (8/24)). Als die Staatsanwaltschaft Gießen und mehrere Nebenkläger:innen hiergegen sofortige Beschwerde eingelegt hatten, hob das OLG die Entscheidung nun wegen eines Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Gebot der bestmöglichen Sachaufklärung auf und verwies die Sache an das LG Hanau zurück. Das LG muss nun Nachermittlungen über die Verhandlungsfähigkeit des Angeschuldigten anstellen.
LG muss Gutachten hinterfragen
Die Verhandlungsfähigkeit müsse im Freibeweisverfahren geklärt werden, hat das OLG entschieden. Das heißt, das LG habe nicht einfach das Sachverständigengutachten seiner Entscheidung unkritisch zugrunde legen dürfen. Vielmehr müssten Diagnosen und Ergebnisse hinterfragt und geprüft werden, ob das Gutachten anerkannten Mindeststandards genügt. Das hat das LG laut OLG nicht gemacht.
Bei einer Prüfung wäre laut OLG nämlich aufgefallen, dass der Sachverständige nicht alle Befunderhebungsquellen einbezogen habe. Außerdem fehlten ausreichende Anknüpfungstatsachen für eine sachverständige Einschätzung. Zudem habe der Sachverständige selbst zugegeben, dass eine Befragung des Angeschuldigten sowie eine umfangreiche psychiatrische Testung nicht möglich waren und auch das Umfeld des Angeschuldigten nicht befragt worden war. Es fehlten laut OLG außerdem Unterlagen zur Krankengeschichte zwischen der Erst- und Zweitbegutachtung. Die Kammer hätte den Sachverständigen aus Sicht des OLG damit zur Ergänzung des Gutachtens auffordern müssen.
Verhandlungsunfähigkeit muss gut begründet werden
Das Gutachten leide außerdem an Darstellungsmängeln, die Ergebnisse seien nicht ausreichend nachvollziehbar dargestellt worden. Eine Verhandlungsunfähigkeit ist laut OLG nur bei "solchen Einschränkungen der geistigen, psychischen oder körperlichen Fähigkeiten anzunehmen, deren Auswirkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch verfahrensrechtliche Hilfen für den Angeklagten nicht hinreichend ausgeglichen werden können". Auch dies sei im Gutachten nicht ausreichend dargestellt worden.
Insbesondere hätte auf die Möglichkeit des Einsatzes technischer, medizinischer und verfahrenstechnischer Hilfen eingegangen werden müssen, diesbezüglich sei das Gutachten "lückenhaft, oberflächlich und teils widersprüchlich", so das OLG. Für eine gerichtliche Überzeugungsbildung reichten diese Ausführung in Summe jedenfalls nicht aus.
GenStA: Verfahren hätte "historische Bedeutung"
Der Frankfurter Generalstaatsanwalt (GenStA) Torsten Kunze begrüßte die Entscheidung des OLG und betonte, dass es sich im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens um den letzten Prozess dieser Art handeln könnte, „was die historische Bedeutung des Verfahrens unterstreicht“. Damit eine Verhandlung überhaupt möglich wird, sei wegen des hohen Alters des Angeschuldigten bei der Prüfung der Verhandlungsfähigkeit nun Eile geboten, so der Pressesprecher der Generalstaatsanwaltschaft Nils Lund.
In der Vergangenheit waren bereits eine 99-jährige ehemalige KZ-Sekretärin sowie ein 101-jähriger mutmaßlicher ehemaliger KZ-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden.
mh/LTO-Redaktion
OLG hebt Beschluss im KZ-Fall auf: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56020 (abgerufen am: 18.01.2025 )
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