Landessozialgericht Berlin-Brandenburg: Bür­ger­geld­emp­fän­gerin muss nicht besser rechnen können als das Job­center

16.04.2025

Weil sich das Jobcenter verrechnet hat, fordert es von einer Familie zu viel gezahltes Bürgergeld zurück. So geht es aber nicht, hat das LSG entschieden: Fehler in komplizierten Berechnungen müssten Laien nicht automatisch auffallen.

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass eine Familie zu viel ausgezahlte Bürgergeldleistungen nicht an das Jobcenter zurückzahlen muss, weil dieses sich verrechnet hatte. Der klagenden Familie sei nicht nachweisbar, dass sie ihre Sorgfalts- und Mitwirkungspflichten in grob fahrlässiger Weise verletzt hat. (Urt. v. 03.04.2025, Az. L 3 AS 772/23).

In dem Fall geht es um eine dreiköpfige Familie, für die die Ehefrau das Verfahren gesamtheitlich führt. Die Familie bezieht seit Juli 2020 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die zu den Leistungen des Bürgergelds zählen, die das Jobcenter zahlt. Um die Höhe der Leistungen zu berechnen, hat die Familie beim Jobcenter den Arbeitsvertrag des Ehemanns als Verkäufer in einem Lebensmittelladen eingereicht. Demnach sollte er ab Februar 2021 monatlich 1.600 Euro netto verdienen. 

Hier kam es dann zu einem entscheidenden Rechenfehler: Das Jobcenter berechnete die Bürgergeldhöhe anhand eines monatlichen Verdienstes von 1.600 Euro brutto (1.276,40 Euro netto). Deshalb bekam die Familie in der Folge mehr Geld ausgezahlt, als ihr eigentlich zugestanden hätte.

Nachdem der Berechnungsfehler aufgeflogen war, wollte das Jobcenter seinen Fehler rückwirkend berichtigen. Mit Bescheid vom 31. Januar 2022 forderte es die Familie zur Rückzahlung der für zehn Monate zu viel gezahlten Leistungen auf. Letztlich ging es um eine Summe in Höhe über 3.000 Euro.

Vorinstanz: Rückzahlungspflicht wegen grober Fahrlässigkeit

Die Klage der Familie vor dem Sozialgericht (SG) Berlin blieb erfolglos. Die Ehefrau, die das Verwaltungsverfahren für die gesamte Familie betreut hat, hat laut der ersten Instanz den Berechnungsfehler aus grober Fahrlässigkeit heraus nicht erkannt. Damit habe das Jobcenter einen Rückforderungsanspruch. Das sah das LSG anders und gab nun der Berufung der Familie statt.

Die hier maßgebliche Vorschrift für die Rückforderung bereits gezahlter Leistungen ist § 45 Abs. 1, Abs. 2 S. 3 Nr. 3 des Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X). Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. 

Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht hat. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte aber dann nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

LSG: Es kommt auf den Horizont des Leistungsempfängers an

Das LSG hat in seiner Entscheidung hervorgehoben, dass es bei der Beurteilung, ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, auch immer auf die subjektive Sicht des Betroffenen ankommt. Um grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, müssen laut LSG die Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Bescheids so groß sein, dass für jeden erkennbar ist, dass man bei einer Behörde zumindest einmal nachfragen muss. 

Dabei komme es entscheidend auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtvermögen und Verhalten der Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Falles an. Bei komplizierten Berechnungen, wie sie sich zum Beispiel in den Bescheiden zur Grundsicherung finden, könne zwar von einem juristischen Laien verlangt werden, dass er die Berechnung durchliest und eventuelle Fehler beachtet. Andererseits sei der Begünstigte nicht gehalten, Bewilligungsbescheide im Detail auf ihre Richtigkeit zu überprüfen, so das LSG.

Komplizierte Berechnungen, die nicht alltäglich sind

Den Berechnungsfehler nicht zu bemerken, stelle in diesem Fall keinen Sorgfaltspflichtverstoß außergewöhnlich hohen Ausmaßes dar, entsprechend liege auch keine grobe Fahrlässigkeit vor. Die klagende Frau habe glaubhaft machen können, beim Verstehen der Berechnungen des Gesamteinkommens der Bedarfsgemeinschaft, die über mehreren Zeilen erfolgten, Schwierigkeiten zu haben. Insbesondere die Auseinanderhaltung der Begriffe von Brutto- und Nettoeinkommen sei ihr schwergefallen. Sie bemerkte zwar den Wert von 1.600 Euro, seine falsche Einordnung in der Zeile "Brutto" statt "Netto" sei ihr aber unterlaufen.

Laut dem Gericht springt so ein Fehler einer Person, die nicht häufig mit solchen Berechnungen zu tun hat, aber nicht unmittelbar ins Auge. Hinzu komme noch, dass mit der Arbeit des Ehemanns erstmals Erwerbseinkommen berücksichtigt wurde, während zuvor nur Einkünfte aus Arbeitslosengeld I angerechnet wurden, bei denen die Unterscheidung brutto/netto nicht relevant war. 

Weil das LSG damit eine grobe Fahrlässigkeit im Ergebnis verneinte, muss die Familie dem Jobcenter die 3.000 Euro zu viel gezahlte Leistungen nicht zurückzahlen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Jobcenter kann beim Bundessozialgericht noch die Zulassung der Revision beantragen.

pa/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57023 (abgerufen am: 22.05.2025 )

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