Neun Monate lang verhandelte das LG Neuruppin gegen einen mutmaßlichen früheren SS-Wachmann des KZ Sachsenhausen. Nun hat es den 101-Jährigen wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Er bestritt bis zuletzt, in dem Lager tätig gewesen zu sein.
Ein 101-jähriger Mann ist wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden Häftlingen im Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann hatte in dem Prozess vor dem Landgericht (LG) Neuruppin bis zuletzt bestritten, in dem KZ Wachmann gewesen zu sein. Nun ist er aber in 3.518 Fällen für schuldig befunden worden.
Auch die Staatsanwaltschaft hatte fünf Jahre Gefängnis für den Mann gefordert. Nebenklage-Vertreter Thomas Walther plädierte auf eine mehrjährige Haftstrafe, die ein Maß von fünf Jahren nicht unterschreiten solle. Zwei weitere Nebenklage-Vertreter forderten einen Schuldspruch, ohne ein konkretes Strafmaß zu nennen. Die Verteidigung hatte einen Freispruch gefordert.
Prozess fand an dem Wohnort des 101-Jährigen statt
Der 101-Jährige hatte in dem seit Oktober vergangenen Jahres laufenden Prozess bestritten, dass er in dem KZ tätig war und angegeben, er habe in der fraglichen Zeit als Landarbeiter bei Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) gearbeitet. Die Staatsanwaltschaft stützt sich bei ihrer Anklage aber auf Dokumente zu einem SS-Wachmann mit dem Namen, Geburtsdatum und Geburtsort des Mannes sowie auf weitere Dokumente.
In dem Konzentrationslager, das im Sommer 1936 von Häftlingen aus den Emslandlagern errichtet worden war, waren in der Zeit von seiner Errichtung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert - unter ihnen politische Gegner des NS-Regimes sowie Angehörige der von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen wie Juden und Sinti und Roma. Zehntausende Häftlinge kamen durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen ums Leben oder wurden Opfer von systematischen Vernichtungsaktionen der SS.
Das Verfahren begann im Oktober vergangenen Jahres. Mehrfach musste es wegen Erkrankungen des Angeklagten ausgesetzt werden und stand zwischenzeitlich sogar gänzlich auf der Kippe. Der Prozess wurde aus organisatorischen Gründen in einer Sporthalle in Brandenburg/Havel, dem Wohnort des 101-Jährigen geführt. Der hochbetagte Mann war nur eingeschränkt verhandlungsfähig und konnte täglich nur etwa zweieinhalb Stunden an dem Prozess teilnehmen.
Update: "Zugesehen, wie deportierte Menschen ermordet wurden"
"Sie haben drei Jahre lang täglich dabei zugesehen, wie deportierte Menschen dort grausam gequält und ermordet wurden", sagte der Vorsitzende Richter des Landgerichts Neuruppin Udo Lechtermann am Dienstag in seiner Urteilsbegründung. "In Beurteilungen wurde festgestellt, dass sie ein zuverlässiger Wachmann - und damit ein willfähriger Helfer der Täter waren."
"Das Gericht ist zur Überzeugung gelangt, dass Sie entgegen Ihren gegenteiligen Beteuerungen rund drei Jahre lang in dem Konzentrationslager als Wachmann tätig waren." Daran könne angesichts der Fülle der Indizien kein Zweifel bestehen. Lechtermann verwies auf die zahlreichen im Prozess behandelten Dokumente mit dem Namen, Geburtsort und Geburtstag des Mannes und andere Hinweise.
Damit habe der Angeklagte den Terror und die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten mitgetragen. "Sie haben mit Ihrer Tätigkeit diese Massenvernichtung bereitwillig unterstützt." Der Spruch auf dem Lagertor "Arbeit macht frei" sei eine zynische Umkehr der Wahrheit durch die SS gewesen, sagte der Vorsitzende Richter. "Arbeit machte dort tot", erklärte Lechtermann. "So war es von der SS auch beabsichtigt."
Verteidigung kündigt Revision an
Die Verteidigung hatte einen Freispruch gefordert. Verteidiger Stefan Waterkamp kündigte daher direkt nach dem Urteil Revision zum Bundesgerichtshof (BGH) an. Der BGH habe in seiner bisherigen Rechtsprechung die bloße Tätigkeit in einer Wachmannschaft eines KZ als nicht ausreichend für eine Verurteilung wegen Beihilfe zu den NS-Verbrechen gesehen, sagte Waterkamp zur Begründung. Das Urteil ist damit noch nicht rechtskräftig.
Der Nebenklage-Vertreter Thomas Walther, der in dem Prozess mehrere Überlebende und Angehörige von NS-Opfern vertrat, zeigte sich nach dem Urteil zufrieden. Entscheidend sei die Feststellung der Schuld durch das Gericht und dass die "unfassbare Grausamkeit" in diesem KZ zur Sprache gekommen sei. "Sachsenhausen ist geschehen, und Sachsenhausen kann an jedem Ort der Welt immer wieder geschehen", sagte Walther. "Dagegen etwas zu tun und dem Gedanken zu folgen 'Wehret den Anfängen' - das ist eine Aufgabe, die uns alle trifft."
dpa/mgö/LTO-Redaktion
LG Neuruppin sieht Schuld in 3.518 Fällen: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48870 (abgerufen am: 08.12.2024 )
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