Migration, Vorratsdatenspeicherung, Informationsfreiheitsgesetz und vieles mehr: Auf über einhundert Seiten haben sich CDU/CSU und SPD auf einen Kurs geeinigt. Lesen Sie hier die wichtigsten Themen im Überblick und wie es weitergeht.
144 Seiten Koalitionsvertrag – gut sechs Wochen nach der Bundestagswahl haben CDU, CSU und SPD ihre Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung abgeschlossen. Die Parteien müssen dem Vertrag nun noch zustimmen, bevor er unterzeichnet und CDU-Chef Friedrich Merz im Bundestag zum Kanzler gewählt werden kann. Bei der SPD stimmen die Mitglieder über den Koalitionsvertrag ab, bei der CDU soll ein kleiner Parteitag darüber entscheiden, bei der CSU der Vorstand.
Im Bereich "Recht", der sechs Seiten umfasst, sind von Elementarschadenversicherung über die Umsetzung der SLAPP-Richtlinie bis hin zur Kriminalisierung von Alltagsgegenständen diverse Vereinbarungen enthalten. Was die Zukunft des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) angeht, bleibt das Papier unklar. Im Migrationsrecht soll die viel zitierte "Asylwende" kommen, inklusive der umstrittenen Grenzkontrollen und Zurückweisungen. Das Thema Migration hatte den Wahlkampf klar dominiert.
Zurückweisungen ja, Ausbürgerung von Doppelstaatlern nein
Obwohl zeitlich unbegrenzte Grenzkontrollen sowie Zurückweisungen von Asylsuchenden gegen europäische Regelungen verstoßen, beabsichtigt Schwarz-Rot, sie trotzdem einzuführen. Ziel ist die Bekämpfung der sogenannten irregulären Migration, also Einwanderung ohne Pass und/oder Visum. Aufrechterhalten bleiben sollen die Maßnahmen "bis zu einem funktionieren Außengrenzschutz" in der EU und bis die bestehenden EU-Regeln des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und des Dublin-Systems erfüllt werden. Ebenfalls beschlossene Sache war zuletzt, dass der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, wie bereits 2016, für zwei Jahre ausgesetzt wird. Auch dieser ist rechtlich umstritten. Zudem sollen Algerien, Indien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden; weitere sollen zeitnah folgen.
Darüber hinaus will Schwarz-Rot die Liste an Straftaten erweitern, nach deren Begehung eine Ausweisung von Ausländern regelmäßig möglich ist. Das soll für Personen gelten, die "nicht unerheblich straffällig werden". Die Einschränkung "nicht unerheblich" ist ein Kompromiss: Nach den Vorstellungen der Union hätte es gar keine Einschränkung gebraucht, die SPD wollte das Wort "erheblich" hineinschreiben. Zudem müsse der Aufenthalt jeder Person beendet werden, die "gewalttätige Stellvertreterkonflikte auf deutschem Boden austrägt". Zu den im Koalitionsvertrag konkret genannten "schweren Straftaten", die bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe eine Regelausweisung begründet, zählen insbesondere Straftaten gegen Leib und Leben, gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie Volksverhetzung, antisemitisch motivierte Straftaten und Widerstand und tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte.
Der verfassungsrechtlich hochumstrittene Vorschlag der Union, im Staatsbürgerschaftsrecht die Möglichkeit der Ausbürgerung von Doppelstaatlern zu schaffen oder – wie es zuletzt hieß – auch nur zu prüfen, konnte sich letztlich nicht durchsetzen. Davon steht im Koalitionsvertrag nichts mehr.
Dafür sind aber zwei verfahrensrechtliche Einschränkungen der Ausländerrechte im Papier enthalten. So wurde die heikle Forderung "Aus dem 'Amtsermittlungsgrundsatz' muss im Asylrecht der 'Beibringungsgrundsatz' werden" aus dem Sondierungspapier übernommen. Auf Arbeitsgruppenebene war das noch umstritten. Im Rahmen der "Rückführungsoffensive" soll der Ausreisepflichtigen verpflichtend beigestellte Rechtsbeistand vor dem Vollzug der Abschiebung abgeschafft werden. Mit der ebenfalls umstrittenen Forderung, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern, konnte sich die Union auch nicht durchsetzen.
KI in der Strafverfolgung, Verschärfung der Volksverhetzung
Kaum bis keine Überraschungen finden sich in dem Bereich, den die Arbeitsgruppe "Innen und Recht" im Vorfeld der Verhandlungen beackert hat. So steht jetzt auch im Koalitionsvertrag, dass strafprozessuale Ermittlungsbefugnisse ausgeweitet werden sollen. Beispielsweise sollen die §§ 100a, 100b Strafprozessordnung dahingehend angepasst werden, dass keine Katalogtat als Vortat von Geldwäschestraftaten erforderlich ist. Außerdem sollen die Sicherheitsbehörden "für bestimmte Zwecke eine Befugnis zur Vornahme einer automatisierten (KI-basierten) Datenanalyse erhalten".
Im materiellen Strafrecht sehen Union und SPD mehrere Strafbarkeitslücken, die geschlossen werden sollen, unter anderem im Bereich "bildbasierter sexualisierter Gewalt". Auch der Tatbestand der Volksverhetzung soll verschärft werden, bei mehrfacher Verurteilung soll "im Rahmen der Resilienzstärkung unserer Demokratie" der Entzug des passiven Wahlrechts geregelt werden. Das alles wurde bereits bekannt, als die Papiere der Arbeitsgruppen an die Öffentlichkeit gelangten.
Vorratsdatenspeicherung wiederbelebt, Cannabis-Teillegalisierung noch nicht gestoppt
Auch soll eine "verhältnismäßige und europa- und verfassungsrechtskonforme dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern" eingeführt werden, mit anderen Worten: die von der FDP noch blockierte Vorratsdatenspeicherung kommt wieder zurück. Der gestiegenen Kinder- und Jugendkriminalität soll entgegengewirkt werden, konkret wollen die Koalitionäre hierzu eine Studie in Auftrag geben. Zudem soll die "Einführung eines Staatshaftungsgesetzes" geprüft werden. Zum Thema Cannabis soll im Herbst 2025 "eine ergebnisoffene Evaluierung des Gesetzes zur Legalisierung von Cannabis" durchgeführt werden – zum teilweise befürchteten bzw. geforderten Rückabwicklung der Entkriminalisierung kommt es damit jedenfalls vorerst nicht.
Im Zivilrecht soll unter anderem der Ticketzweitmarkt für Sport- und Kulturveranstaltungen stärker reguliert werden, "um Verbraucher vor überhöhten Preisen, Intransparenz und betrügerischen Verkaufspraktiken zu schützen". Auch will sich die Koalition auf europäischer Ebene für den Verbraucherschutz einsetzen und eine verbraucherfreundliche Gestaltung digitaler Angebote erreichen. Im Urheberrecht soll für einen "fairen Ausgleich der Interessen aller Akteure" gesorgt werden. Dabei sollen auch Streaming-Plattformen verpflichtet werden, "Kreative angemessen an den Einnahmen zu beteiligen".
Familienrechtlich sei häusliche Gewalt als Kindeswohlgefährdung im "Sorge- und Umgangsrecht maßgeblich zu berücksichtigen", zudem sollen Frauenrechte gestärkt werden, unter anderem auch durch besseren strafrechtlichen Schutz. Geplant ist etwa ein neues Qualifikationsmerkmal beim Mordtatbestand, der daneben auch "besonders verletzliche Personen wie Kinder, gebrechliche Menschen und Menschen mit Behinderung" stärker schützen soll.
Schwammig formulierte IFG-Reform, nichts zur Juristenausbildung, Wahlrecht
"Mit einem Mehrwert für Bürgerinnen und Bürger und Verwaltung" soll das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) reformiert werden. Das ist eine abgewandelte Formulierung des Vorschlags der Union aus dem Arbeitsgruppenpapier, wo es hieß, das IFG solle "in seiner bisherigen Form abgeschafft" werden. Dies war auf heftige Kritik von Medien und Zivilgesellschaft gestoßen. Die neue Formulierung ist schwammig, es bleibt abzuwarten, was Schwarz-Rot letztlich umsetzt.
Im Koalitionsvertag nicht enthalten sind beispielsweise – wie schon im Wahlkampf absehbar war – die Themen Juristenausbildung und anwaltliches Berufsrecht. Auch besonders kontrovers diskutierte Justizthemen wie die audio-visuelle Dokumentation der strafrechtlichen Hauptverhandlung kommen gar nicht im Vertrag vor, die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs nur am Rande.
Außerdem will Schwarz-Rot die umstrittene Wahlrechtsreform 2023 evaluieren und im Jahr 2025 Vorschläge unterbreiten, wie jeder Bewerber mit Erststimmenmehrheit in den Bundestag
einziehen und der Bundestag unter Beachtung des Zweitstimmenergebnisses grundsätzlich bei der aktuellen Größe verbleiben kann. In einigen Fällen kam es bei der Bundestagswahl nämlich zu Konstellationen, in denen Kandidaten trotz gewonnenen Wahlkreises nicht zu Abgeordneten wurden.
Kontakte zu den USA pflegen, Wehrpflicht nach Schwedischem Modell
Außenpolitisch soll weiterhin auf eine enge transatlantische Zusammenarbeit gesetzt werden. Die Kontakte zu den USA blieben auch unter US-Präsident Donald Trump "von überragender Bedeutung". Handelspolitisch soll es einen Schulterschluss mit ganz Nordamerika geben. Die transatlantische Partnerschaft sei "eine große Erfolgsgeschichte für beide Seiten, die es auch unter den neuen Bedingungen fortzusetzen gilt". Deshalb werde Deutschland mehr Verantwortung für die gemeinsame Sicherheit übernehmen.
Beim Thema Wehrpflicht soll ein auf Freiwilligkeit basierendes Modell eingeführt werden, Vorbild soll das sogenannte Schwedische Modell sein. Dafür sollen noch in diesem Jahr die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung geschaffen werden. Die Infrastruktur zur Musterung neuer Rekruten wie beispielsweise die Kreiswehrersatzämter war mit Aussetzung der Wehrpflicht massiv zurückgebaut worden.
Zudem geplant sind unter anderem: das Vorantreiben der "Anpassung an den Klimawandel", 15 Euro Mindestlohn ab 2026, Steuersenkungen für kleine und mittlere Einkommen, Verschärfungen beim Bürgergeld, die Einführung eines Industriestrompreises sowie die Abschaffung des Heizungsgesetzes, Erhöhungen beim BAföG und beim Elterngeld, die Einführung eines Nationalen Sicherheitsrats und eine Verlängerung des Deutschlandtickets über 2025 hinaus.
Merz: "Handlungsfähige und starke Regierung"
CDU-Chef Friedrich Merz hat den Menschen in Deutschland eine neue, starke Regierung versprochen. Die Einigung von Union und SPD auf einen gemeinsamen Koalitionsvertrag sei ein "sehr starkes und klares Signal" an die Deutschen sowie an die Partner in der Europäischen Union. "Deutschland bekommt eine handlungsfähige und eine handlungsstarke Regierung", sagte Merz, den Union und SPD zum Bundeskanzler wählen wollen, in Berlin. Alle Spekulationen über die Pläne der neuen Regierung seien nun beendet. Der Koalitionsvertrag sei Ergebnis intensiver Beratungen. Das zwischen den Partnern bereits entstandene Vertrauen sei die Basis des gemeinsamen Regierens.
SPD-Chef Lars Klingbeil betonte seinerseits das gemeinsame Ziel von Union und SPD, Deutschland ungeachtet aller aktuellen Krisen gemeinsam voranzubringen. "Wir haben das Potenzial, gestärkt aus dieser Zeit hervorzugehen", sagte Klingbeil. Mit Blick auf die gemeinsamen Vereinbarungen sagte er: "Es geht nicht darum, alles zu ändern - aber es geht darum, das Richtige zu ändern." Während zuletzt oft von roten Linien die Rede war, betonte Klingbeil nun: "Das, was jetzt vorliegt, ist ein roter Faden."
Nach den Worten von CSU-Chef Markus Söder holt der Koalitionsvertrag Deutschland außenpolitisch aus der Defensive. Der Vertrag sei auch ein "Signal an das Ausland, Deutschland ist nicht wehrlos, wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand", sagte der bayerische Ministerpräsident nach der Einigung von Union und SPD in Berlin. Zugleich sei der Koalitionsvertrag auch ein Zeichen an die Bevölkerung, "wir kümmern uns um euch".
Wie es jetzt weitergeht
Die Koalitionsverhandlungen hatten Mitte März begonnen, drei Wochen nach der Bundestagswahl am 23. Februar. Zuvor hatten sich Union und SPD in Sondierungsgesprächen bereits auf ein elfseitiges Eckpunktepapier verständigt, das unter anderem die Lockerung der Schuldenbremse für Verteidigung und ein Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Investitionen vor allem in die Infrastruktur vorsah, das sie zusammen mit den Stimmen der Grünen durchgebracht haben, nicht ohne Federn zu lassen.
Bis eine schwarz-rote Regierung loslegen kann, wird es trotzdem noch eine Weile dauern. Das Mitgliedervotum der SPD wird etwa zwei Wochen dauern. Das Ergebnis wird also erst nach Ostern verkündet. Der kleine Parteitag der CDU dürfte Ende April stattfinden.
Geht alles glatt, kann die Wahl des Kanzlers im Bundestag und die Vereidigung des Kabinetts Anfang Mai stattfinden, konkret im Gespräch ist der 7. Mai. Dann hätte Deutschland fast auf den Tag genau ein halbes Jahr nach dem Bruch der Ampel-Koalition von SPD, Grünen und FDP am 6. November 2024 eine neue Regierung.
jb/mk/LTO-Redaktion
mit Material der dpa
Koalitionsvertrag steht: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56975 (abgerufen am: 22.04.2025 )
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