Druckversion
Mittwoch, 31.05.2023, 19:20 Uhr


Legal Tribune Online
Schriftgröße: abc | abc | abc
https://www.lto.de//recht/nachrichten/n/kindesmissbrauch-kindgerechte-justiz-strafverfahren-kindschaftsverfahren-videovernehmung/
Fenster schließen
Artikel drucken
45351

Welche Maßnahmen im Kampf gegen Kindesmissbrauch?: "Die Justiz muss kind­ge­rechter wer­den"

30.06.2021

Ein Kind an der Hand eines Erwachsenen.

feelartfeelant . stock.adobe.com

Dem "Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" zufolge müssen Gerichtsverfahren altersgerechter werden. Von Videovernehmungen werde nicht genug Gebrauch gemacht, die Justiz sei nicht hinreichend geschult.

Anzeige

Fachleute aus Wissenschaft, Politik und Praxis fordern eine kindgerechte Justiz. Das geht aus einem Papier des "Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" hervor, welches der Rat am Mittwoch nach eineinhalb Jahren Arbeit vorgestellt hat. Neben der Gewährleistung kindgerechter Gerichtsverfahren sei Ziel der darin genannten Maßnahmen, Schutz und Hilfen im Falle sexualisierter Gewalt und Ausbeutung zu verbessern. Außerdem soll die Forschung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt weiter vorangetrieben werden.

Das Gremium war 2019 vom Bundesfamilienministerium eingesetzt worden. Rund 300 Experten aus Politik, Wissenschaft, Gesellschaft, Fachpraxis und auch Betroffene kamen seitdem in mehreren Sitzungen und Arbeitsgruppen zusammen, darunter auch eine für "kindgerechte Justiz". Darunter versteht die Arbeitsgruppe eine zugängliche, altersgerechte, zügige, sorgfältige und auf die Bedürfnisse und Rechte von Kindern zugeschnittene Justiz.  

Zunächst lobt die Arbeitsgruppe in dem Papier die in den vergangenen Jahren bereits ergriffenen Maßnahmen, um betroffenen Kindern und Jugendlichen die aus deren Sicht häufig langwidrigen und komplizierten Straf- und Kindschaftsverfahren zu erleichtern. Positiv seien hier die Regelungen im Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder einzustufen. Darin ist unter anderem ein Beschleunigungsgebot für Strafverfahren mit minderjährigen Opferzeuginnen und -zeugen verankert. In Kindschaftssachen sei zudem richtigerweise vorgesehen, dass die persönliche Anhörung des Kindes altersunabhänig persönlich stattfinden muss.

Mehr Videovernehumungen, mehr Spezialkompetenzen

Als weitere positive Maßnahme nennt die Arbeitsgruppe die Verpflichtung, bei Betroffenen einer Sexualstraftat Videovernehmungen durchzuführen oder auch die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung. An der Umsetzung hakt es nach Ansicht der Arbeitsgruppe jedoch. So scheitern die Videoverhandlungen häufig an der schlechten technischen Ausstattung an den Strafgerichten und auch die psychosoziale Prozessbegleitung werde nicht immer eingebunden.

Daher stellt die Arbeitsgruppe von ihr entwickelte Praxisleitfäden vor, die mithilfe von Handlungsempfehlungen auch Unsicherheiten bei den anderen am Verfahren beteiligten Personen beseitigen soll. Der "Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das familiengerichtliche Verfahren" beispielsweise soll den Akteuren möglichst über die Justizverwaltungen im Herbst 2021 zugestellt werden.

Dasselbe gelte für den entsprechenden Leitfaden für Strafverfahren. Ziel der Arbeitsgruppe ist es laut Bericht, das Problembewusstsein von Justiz und Polizei im Interesse des Kindes zu stärken. Außerdem spricht sich die Arbeitsgruppe dafür aus, bei Jugendschutzverfahren vermehrt Personen mit Spezialkompetenz einzusetzen. Das sei zwar im Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder so vorgesehen. So müssen die Richterinnen und Richter über bestimmte pädagogische und psychologische Qualifikationen verfügen. Aber vor allem kleinere Gerichte stelle das vor eine Herausforderung. Als eine mögliche Lösung nennt die Arbeitsgruppe eine Einrichtung von Schwerpunktgerichten und –staatsanwaltschaften. Schließlich sei dann auch nur dort eine teure Videotechnik für die Videovernehmungen notwendig. 

Mehr altersgerechte Informationen, mehr E-Learning für die Justiz

Diesbezüglich empfiehlt die Arbeitsgruppe auch einen Musterleitfaden zur richterlichen Videovernehmung zu erstellen. Als Vorbild könne der "Flensburger Leitfaden" dienen, der in Schleswig-Holstein bereits zum Einsatz komme. Außerdem müssten vermehrt Fortbildungen zu diesen Themen stattfinden und auch das müsse mit mehr E-Learning geschehen.

Über das Angebot der psychosozialen Prozessbegleitung müsse mehr mit altersgerechten Informationsmaterialien indormiert werden.

Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) sprach sich dafür aus, dass das Gremium auch nach der Bundestagswahl weiter zusammenkommen soll. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte bei einem Gespräch mit Mitgliedern des Rates, es reiche nicht aus, nur zu reagieren, wenn besonders drastische Straftaten öffentlich würden. Es brauche im Land eine Haltung des Hinschauens.

Die Polizei hatte laut aktueller Kriminalstatistik im vergangenen Jahr erneut mehr Fälle von Kindesmissbrauch und von Misshandlungen Schutzbefohlener registriert. So stieg die Zahl der Misshandlung Schutzbefohlener um zehn Prozent auf 4.918 Fälle, bei Kindesmissbrauch stieg sie um 6,8 Prozent auf über 14.500 Fälle.

pdi/LTO-Redaktion

Mit Material der dpa

  • Drucken
  • Senden
  • Zitieren
Zitiervorschlag

Welche Maßnahmen im Kampf gegen Kindesmissbrauch?: "Die Justiz muss kindgerechter werden" . In: Legal Tribune Online, 30.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45351/ (abgerufen am: 31.05.2023 )

Infos zum Zitiervorschlag
  • Mehr zum Thema
    • Strafrecht
    • Familienrecht
    • Justiz
    • Kinder
    • Sexueller Missbrauch
26.05.2023
Justiz

Justizministerkonferenz Frühjahr 2023 in Berlin:

Die wich­tigsten Beschlüsse im Über­blick

Juristenausbildung ohne Verfassungsfeinde, dafür vielleicht doch mit Ruhetagen, höhere Streitwertgrenzen an Amtsgerichten und E-Scooter ohne Haftungsprivilegierung: Die Justizministerinnen und Justizminister hatten viel zu besprechen.

Artikel lesen
26.05.2023
Richter

Bund Deutscher Verwaltungsrichter kritisiert Politik:

Deut­sch­land soll seine Richter end­lich besser bezahlen

Mit einer Besoldung, die sich nur an den verfassungsrechtlichen Minimalanforderungen orientiert, wird die Justiz nicht zukunftsfähig sein, bemängelt der BDVR und fordert deshalb schnelle Maßnahmen des Gesetzgebers.

Artikel lesen
31.05.2023
Leiharbeit

BAG zum Gleichstellungsgrundsatz:

Kein Equal Pay für Leih­ar­beiter

Leiharbeiter dürfen für dieselbe Arbeit schlechter bezahlt werden als Stammarbeitnehmer des entleihenden Unternehmens, so das BAG. Diese Ungleichbehandlung werde schließlich auf anderem Wege kompensiert.

Artikel lesen
31.05.2023
beA

BGH zu an falsches Gericht adressierten Schriftsatz:

Anwalt hat ver­säumte Frist zu ver­schulden

Anwälte müssen ihre Schriftsätze genau überprüfen und dürfen nicht auf ihr gut geschultes Personal vertrauen. Für Fehler durch falsche Angaben müssen sie ggf. einstehen, hat der BGH zu einem per beA falsch versandten Schriftsatz entschieden.

Artikel lesen
29.05.2023
Jurastudium

Videobericht zu Demonstration vor Justizministerkonferenz:

"Die juris­ti­sche Aus­bil­dung darf nicht krank machen!"

Empörte Nachwuchsjuristen gewappnet mit Megaphon und Schildern richten ihre Reform-Forderungen an die in Berlin tagenden Justizminister. Angesichts sinkender Studentenzahlen liegt der Handlungsbedarf auf der Hand. Wie reagiert die Politik? 

Artikel lesen
31.05.2023
Extremismus

OLG Dresden urteilt im Linksextremismus-Prozess:

Über fünf Jahre Haft­strafe für Lina E.

Nach 99 Prozesstagen hat das OLG Dresden das Urteil im Fall Lina E gesprochen. Die Studentin muss für fünf Jahre und drei Monate in Haft, weil sie und Mitangeklagte Personen aus der rechten Szene zusammengeschlagen haben sollen.

Artikel lesen
TopJOBS
Wis­sen­schaft­li­che*r Mit­ar­bei­ter*in (w/m/d) am Lehr­stuhl für Straf­recht,...

FernUniversität Hagen , Ha­gen

Rich­ter:in­nen (w/m/d) im Rich­ter­ver­hält­nis auf Pro­be (Voll­ju­rist:in­nen...

Freie Hansestadt Bremen , Bre­men

Geld ver­die­nen als Te­le­fon­an­walt / Te­le­fon­an­wäl­tin

DAHAG Rechtsservices AG , 100% Re­mo­te

WO­MEN@­C­LIF­FORD­CHAN­CE - KAR­RIE­R­E­WORK­SHOP

CLIFFORD CHANCE Partnerschaft mbB , Frank­furt am Main

Wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­ten­de (w/m/d) In­ter­na­tio­na­les...

Hogan Lovells International LLP , Mün­chen

Voll­ju­ris­ten (m/w/d) – Ih­re Zu­kunft in der hes­si­schen Jus­tiz

Hessisches Ministerium der Justiz , Wies­ba­den

Key Ac­co­unt Ma­na­ger Pu­b­lic (Ho­me Of­fice) (m/w/d)

Wolters Kluwer Deutschland GmbH , 100% Re­mo­te

Rechts­an­wält*in­nen (m/w/d) im Be­reich Wirt­schafts­straf­recht (Whi­te Col­lar,...

CLIFFORD CHANCE Partnerschaft mbB , Frank­furt am Main

Alle Stellenanzeigen
Veranstaltungen
LEGAL ENGLISH FOR NEGOTIATIONS - ONE-DAY CRASH COURSE

12.06.2023

«ChatGPT & Co. - Digitale AI-Avatare als Jurist*innen?»

31.05.2023

Workshop: Überzeugen, nicht langweilen! - Dein erfolgreicher Auftritt vor Publikum

02.06.2023, Düsseldorf

SIDLEY INTERN - Praktikantenprogramm von Sidley Austin

04.09.2023, München

«ChatGPT & Co. - Digitale AI-Avatare als Jurist*innen?»

31.05.2023

Alle Veranstaltungen
Copyright © Wolters Kluwer Deutschland GmbH