BGH zur "Judensau" in Wittenberg: Schandmal bleibt Schandmal

von Dr. Felix W. Zimmermann

14.06.2022

Der BGH hat entscheiden, dass die "Judensau" in Wittenberg bleiben darf, weil es eine Informationstafel dazu gibt. Für Felix W. Zimmermann verkennt der BGH dabei, dass die gutgemeinte Distanzierung die Verbreitung der Schmähung verstärkt. 

Er sei gegen "cancel culture", sagte der Pastor der Stadtkirche Wittenberg, Alexander Garth, nach der Urteilsverkündung. Daher beruhige ihn die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH), nach dem das "Judensau"-Relief weiterhin Bestandteil der Fassade sein dürfe. Im gleichen Atemzug erinnerte er daran, dass sich die Kirche ihrer großen historischen Schuld bewusst sei, und kündigte an, sie werde sich vor Ort in Zukunft "noch lauter" von der Schmähung der Juden distanzieren. Wie dies geschehen soll, werde in einem "kreativen Prozess" geklärt. 

Doch mit Distanzierungen ist es so eine Sache. Bereits jetzt ist es so, dass das Augenmerk der Besucher sich gerade wegen der Distanzierung überhaupt auf das "Judensau"-Relief richtet. Hinzukommt: Nach der großen öffentlichen Diskussion und dem vom klagenden Juden angestoßenen Prozess werden viele Besucher der Stadtkirche die "Judensau" einmal “live” sehen wollen. Die angekündigte "noch lautere" Distanzierung dürfte diesen Effekt verstärken und die "Judensau" zu einer Art Hauptattraktion der Stadtkirche in Wittenberg werden lassen. Verbreitung der Schmähung auf Social Media inklusive. 

Macht der Bilder ist größer als die jedes Erklärtextes 

Wer hier argumentiert, eine Auseinandersetzung mit den Sünden der Kirche durch Informationstafeln und andere Erklärstücke sei selbstreflektierend, ein warnendes Signal und daher eine gute Sache, verkennt die Macht der Bilder und ihre subtile Wirkung. Jede noch so deutliche Distanzierung vereitelt nicht, dass weiter an der im öffentlichen Raum befindlichen Fassade der Kirche Juden verächtlich gemacht werden. Solche Bilder wirken leider nachhaltiger als jede textliche Distanzierung. Hinzu kommt, dass für den Laien erst durch diese Distanzierung überhaupt ersichtlich wird, dass es sich bei den dargestellten Personen um Juden handelt, die dort abgebildet sind. 

Die Entscheidung des BGH und der Vorinstanzen in der Distanzierung durch die Informationstafel die Aufhebung der Beleidigung zu sehen, sodass das Relief vom Schand- zu Mahnmal werde, ist daher fragwürdig. Schandmal bleibt Schandmal. Auch weil die Kirche selbst daran schuld ist, dass das Relief überhaupt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Denn erst seit einer Restaurierung 2017 ist es deutlich erkennbar

Warum hat die Kirche das Relief bei der Restaurierung nicht gleich ausgespart und damit das Signal gesetzt, dass es sich hier um Relikte des Judenhasses handelt, die entsprechend zu behandeln sind? Das wäre eine eindeutige Distanzierung gewesen, statt nun "noch lauter" auf die eigene Schuld, damit aber zugleich auch auf die Judensau aufmerksam zu machen. Für Auseinandersetzung mit der Schuld der Kirche gibt es andere Möglichkeiten, sie muss dafür nicht ihre Fassade hergeben. 

Judensau an Fassade ist mit moderner Kirche unvereinbar 

Will die Kirche selbst mehr sein als ein Museum, sondern Gegenwart gestalten, sollte sie auch ihre Fassade an die Gegenwart anpassen. Dann dürften übelste Schmähungen von Juden an einer Kirchenfassade nichts zu suchen haben. Die Stadtkirche Wittenberg sollte begreifen, dass die klarste und deutlichste Kommentierung die Abnahme des Reliefs und Kommentierung desselben an anderer Stelle, etwa im Museum, ist. Diese Möglichkeit besteht auch nach diesem Urteil.

Die Richter der BGH haben heute im Rahmen der Beleidungsdogmatik des Strafgesetzbuchs entschieden. Dabei haben oder konnten sie nicht berücksichtigen, dass auch eine gutgemeinte Distanzierung bei gleichzeitiger Wahrnehmbarkeit der Schmähung im öffentlichen Raum den gewünschten Zweck nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Distanzierung fördert faktisch die Verbreitung von Antisemitismus. 

 

LTO-Chefredakteur Felix W. Zimmermann in Karlsruhe zum "Judensau"-Urteil des BGH

 

 

Zitiervorschlag

BGH zur "Judensau" in Wittenberg: Schandmal bleibt Schandmal . In: Legal Tribune Online, 14.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48749/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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