Nach Merz' Scheitern im ersten Anlauf: Zweiter Wahl­gang zum Bun­des­kanzler noch am Diens­ta­gnach­mittag

06.05.2025

Das gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie: Friedrich Merz ist als Kandidat bei der Kanzlerwahl im ersten Wahldurchgang gescheitert. Nach juristischem Hin und Her findet am Dienstagnachmittag ein zweiter Wahlgang statt.

CDU-Chef Friedrich Merz ist bei der Kanzlerwahl im Bundestag im ersten Wahlgang durchgefallen. Er erhielt in geheimer Abstimmung 310 von 621 abgegebenen Stimmen und damit sechs weniger als für die Mehrheit (316 Stimmen) benötigt. Die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD haben zusammen 328 Sitze im Parlament.

Es ist ein Novum: Noch nie ist nach einer Bundestagswahl und erfolgreichen Koalitionsverhandlungen ein designierter Kanzler bei der Wahl im Bundestag gescheitert.

Das Grundgesetz (GG) regelt auch diesen Fall. In Art. 63 Abs. 3 GG, der die Regeln für die Kanzlerwahl enthält, steht: "Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem Wahlgang mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen."

Sollte Merz den Eindruck gewinnen, er könnte in einem zweiten Wahlgang mehr Erfolg haben als im ersten, kann er jederzeit wieder antreten. Innerhalb der zweiwöchigen Frist kann es beliebig viele Wahlgänge mit verschiedenen Kandidatinnen und Kandidaten geben. Aber auch sie brauchen die absolute Mehrheit von mindestens 316 Stimmen, um gewählt zu sein.

Nächster Schritt: einfache statt absolute Mehrheit

Schafft auch das niemand, werden im nächsten Schritt die Anforderungen gesenkt. Dann reicht für die Wahl zum Bundeskanzler die einfache Mehrheit. In Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG heißt es: "Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält."

Wenn der oder die Gewählte die Kanzlermehrheit erhält, muss der Bundespräsident ihn oder sie innerhalb von sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Bei einer Wahl nur mit einfacher Mehrheit kann der Bundespräsident alternativ auch binnen sieben Tagen den Bundestag auflösen und eine Neuwahl ansetzen.

Weil Merz' Wahl zum Bundeskanzler damit noch andauert, bekommt Olaf Scholz eine ungeplante Verlängerung. Art. 69 Abs. 3 GG bestimmt, dass der Kanzler die Amtsgeschäfte "bis zur Ernennung seines Nachfolgers" weiter führt. Dazu ist er verpflichtet, auch wenn ihn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bereits im März entlassen hat. Auch die Ministerinnen und Minister des Bundeskabinetts bleiben vorerst geschäftsführend im Amt.

Update: Nächster Wahlgang noch am Dienstag

Der zweite Wahlgang wird noch am Dienstag (gegen 15.15 Uhr) stattfinden, wie die dpa aus Fraktionskreisen erfuhr. Zuvor hatte es verfassungsrechtliche Debatten über den rechtmäßigen Zeitpunkt hierfür gegeben.

Dass nach dem Scheitern eines Kandidaten im ersten Wahlgang grundsätzlich weitere Wahlgänge innerhalb von 14 Tagen erfolgen dürfen, ist eindeutig. Weder aus dem Wortlaut von Art. 63 Abs. 3 GG noch von §§ 4 S. 2, 20 Abs. 3 S. 1 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) ergibt sich eine Beschränkung auf nur einen Wahlgang. 

Unter anderem der Berliner Verfassungsrechtler Prof. Dr. Alexander Thiele äußerte insoweit auf X, der Bundestag könne ohne Weiteres auch schon am Dienstag erneut wählen. Auch einschlägige Grundgesetz-Kommentierungen sehen die Verantwortung für die Wahl in dieser Situation vollständig beim Bundestag. Das Grundgesetz gehe "offensichtlich davon aus, dass der Bundestag bzw. die in ihm vorhandenen Fraktionen die äußersten Anstrengungen unternehmen, um für einen Kandidaten die absolute Mehrheit der gesetzlichen Abgeordnetenzahl zu erreichen", heißt es etwa im von Dürig/Herzog/Scholz herausgegebenen Kommentar. Es stehe demnach im Ermessen des Bundestages, wann weitere Wahlgänge innerhalb der 14-Tage-Frist nach Art. 63 Abs. 3 GG stattfinden.

Am Dienstagmittag warf Merz' Scheitern aber die Frage auf, ob ein zweiter Wahlgang noch am Dienstag selbst angesetzt werden darf. Laut Tagesordnung war nur von "Wahl des Bundeskanzlers" die Rede. So hätte man argumentieren können, dass ein zweiter Wahlgang noch unter diesen Tagesordnungspunkt fällt. Man kann es aber auch anders sehen: Da sich Merz und diverse hochrangige Politiker erst einmal zu Beratungen zurückzogen, hätte man auch die Beendigung des Tagespunktes "Wahl des Bundeskanzlers" annehmen können. Dann wäre ein zweiter Wahlgang ein Abweichen von der ursprünglichen Tagesordnung, was besondere Voraussetzungen hat.

Die Ungewissheit klärt jetzt ein internes Bundestagsgutachten, das extra noch am Dienstag in der "Abteilung Parlament und Abgeordnete – Unterabteilung Parlamentsdienste" ausgearbeitet wurde und das LTO vorliegt. Das Gutachten hält einen zweiten Wahlgang noch in der laufenden Sitzung am Dienstag für möglich. Gleichwohl muss der Wahlvorschlag demnach für einen zweiten Wahlgang von einem Viertel der Abgeordneten oder einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Abgeordneten umfasst, unterzeichnet sein.

Hinzu kommt: Eigentlich gilt für den Wahlvorschlag die Verteilfrist des § 75 Abs. 1 lit. g) i.V.m. § 78 Abs. 5 GO-BT, sodass die Beratung frühestens am dritten Tage nach der Verteilung beginnen kann. Grundsätzlich hätte also erst am Freitag ein zweiter Wahlgang stattfinden können. Damit der noch am Dienstag einen zweiten Wahlgang starten zu können, ist laut dem Gutachten eine Abweichung gemäß § 126 GO-BT möglich. Hiernach bedarf es der Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der anwesenden Abgeordneten. Diese Zustimmung gilt als gesichert, Schwarz-Rot kann sich laut Medienberichten auf das Einverständnis von Linken und Grünen verlassen. Entsprechend wird aller Voraussicht nach noch am Dienstagnachmittag erneut über Merz' als Kanzlerkandidat abgestimmt.

Reaktionen: Wut, Unsicherheit, Durchhalteparolen

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann begrüßt den raschen zweiten Anlauf zur Wahl von Parteichef Friedrich Merz zum Bundeskanzler. "Die Welt ist in Unruhe. Europa braucht ein starkes Deutschland und deswegen können wir jetzt nicht tagelang warten, sondern wir brauchen schnell Klarheit", sagte er nach dem Verfehlen der Kanzlermehrheit für Merz im ersten Wahlgang. Linnemann machte bei Phoenix deutlich, er hoffe auf einen zweiten, dann erfolgreichen Wahlgang im Bundestag. Er betonte: "Friedrich Merz ist der richtige Kandidat zur richtigen Zeit."

Schnell wurde nach dem Scheitern im ersten Wahlgang nach Verantwortlichen gesucht. An der SPD habe es jedenfalls nicht gelegen, versicherten die Genossen sofort. SPD-Fraktionschef Lars Klingbeil erklärte nach Angaben aus Fraktionskreisen, er habe "nicht den geringsten Hinweis, dass die SPD nicht vollständig gestanden hat". Das deutliche Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag sei ein Auftrag an die Fraktion. "Und sie erfüllt diesen. Auf uns ist Verlass", betonte der designierte Vizekanzler. Doch sicher kann auch Klingbeil letztlich nicht sein, denn die Wahl war geheim – es lässt sich also nicht überprüfen, ob nicht doch jemand anders abgestimmt hat, als er oder sie angekündigt hat.

Aus der Opposition frohlockte vor allem die AfD und forderte sofort eine Neuwahl des Bundestages. Grünen-Chefin Franziska Brantner dagegen sagte: "Wir wünschen uns für Europa und Deutschland eine handlungsfähige Regierung." Merz und Klingbeil müssten nun beweisen, dass sie die Mehrheit ihrer Fraktionen jetzt, aber auch für vier Jahre sichern könnten. Thüringens früherer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) machte ebenfalls Merz und Klingbeil für die Lage verantwortlich. "Ich bin krachsauer auf die Koalition", sagte er der dpa.

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dpa/jb/hs/LTO-Redaktion

Artikelversion vom 06. Mai, 14:38 Uhr.

Zitiervorschlag

Nach Merz' Scheitern im ersten Anlauf: . In: Legal Tribune Online, 06.05.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57128 (abgerufen am: 14.05.2025 )

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