Die deutsche Vorratsdatenspeicherung ist laut EuGH-Generalanwalt nicht mit Unionsrecht vereinbar. Er leitet dies aus der bereits ergangenen Rechtsprechung des EuGH ab. Es könne nur eine Ausnahme für die nationale Sicherheit geben.
Die allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung im Bereich der elektronischen Kommunikation ist nicht mit Unionsrecht vereinbar. Eine Ausnahme kann nur bei einer ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gelten. Dies ließ der EuGH-Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen zu mehreren zusammengefassten Fällen aus drei Ländern, darunter erstmals auch aus Deutschland, verlauten (Schlussanträge v. 18.10.2021, Rs. C-793/19 und C-794/19; Rs. C-140/20; Rs. C-339/20 und C-397/20).
Der EuGH hatte sich zwar in der Vergangenheit bereits zur Vorratsdatenspeicherung geäußert, so im Oktober 2020 oder auch mit einer Grundsatzentscheidung aus 2016. Grob gesagt ist die komplett anlasslose Speicherung nicht mit Unionsrecht vereinbar. Dieses Mal ging es jedoch erstmals um eine Vorlage aus Deutschland – und erneut um ganz grundsätzliche Fragen des höchst umstrittenen Modells. In Deutschland ist die Vorratsdatenspeicherung bis zum Urteil des EuGH ausgesetzt. Dieses ist erst im Jahr 2022 zu erwarten.
Die Pressemitteilung des EuGH liest sich regelrecht überrascht von den Vorlagen. So heißt es, der Generalanwalt sei der Auffassung, "dass die Antworten auf alle vorgelegten Fragen bereits in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu finden seien oder unschwer aus ihr abgeleitet werden könnten". Und zuvor: "Auch wenn zu erwarten gewesen wäre, dass der Debatte damit ein Ende gesetzt wurde, weil der Gerichtshof sich – im Dialog mit den nationalen Gerichten – um eine detaillierte Erläuterung der Gründe bemühte, die trotz allem die vertretenen Thesen rechtfertigten, scheint die Debatte noch kein Ende gefunden zu haben".
Das Thema dürfte für die Regierungen der Nationalstaaten allerdings noch keineswegs erledigt sein. In regelmäßigen Abständen betonen Innen- und Rechtspolitiker der EU-Staaten die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung für die Verbrechensbekämpfung. Darunter auch die Justizministerin Christine Lambrecht (SPD), die mit ihrem Haus aber zunächst die Entscheidung des EuGH über das deutsche Modell abwarten will.
Vorlagen aus Deutschland, Irland und Frankreich
Der EuGH beschäftigt sich zum einen mit zwei Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (Rs. C-793/19 und C-794/19). Dieses möchte wissen, ob die im Telekommunikationsgesetz (TKG, Fassung vom 10. Dezember 2015) festgesetzte Vorratsdatenspeicherung gegen Unionsrecht verstößt. Konkret geht es um die Speicherpflicht aus § 113a Abs. 1 i.V.m. § 113b TKG. Hintergrund des Falles vor dem BVerwG ist die Klage der SpaceNet AG und der Telekom Deutschland GmbH gegen die Bundesnetzagentur. Vor dem Verwaltungsgericht (VG) Köln begehrten diese die Feststellung, dass sie nicht verpflichtet sind, bestimmte Verkehrsdaten ihrer Kundinnen und Kunden auf Vorrat zu speichern. Das VG Köln und ebenso das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster gaben ihnen damals recht, die beklagte Bundesrepublik Deutschland zog jedoch weiter vor das höchste deutsche Verwaltungsgericht.
Außerdem befasste sich der Generalanwalt mit einem Fall des irischen Supreme Courts (Rs. C-140/20). Dieser möchte vom EuGH wissen, welche Anforderungen das Unionsrecht an die Vorratsdatenspeicherung zum Zwecke der Bekämpfung der schweren Kriminalität stellt und ebenso an die notwendigen Garantien, die den Zugang zu den Daten regulieren müssen.
Der dritte Fall stammt aus Frankreich. Der Cour de cassation möchte wissen, ob die Marktmissbrauchsverordnung Nr. 596/2014 bzw. die abgelöste Richtlinie 2003/6 den nationalen Gesetzgeber ermächtigt, die Telekommunikationsgesellschaften zu verpflichten, Verbindungsdaten generell für eine bestimmte Zeit auf Vorrat zu speichern (C-339/20 und C-397/20). Damit werde ermöglicht, dass Behörden diese Daten anfordern können, wenn sie für Beweise von Verstößen gegen die genannte Verordnung relevant sein können. Konkret geht es dabei um Kontakte von Personen bei möglichen Insidergeschäfte oder Marktmanipulation.
Sánchez-Bordona findet für alle drei Fälle in seinen Schlussanträgen nun klare Worte: Sie seien bereits durch die bisherige EuGH-Rechtsprechung abgedeckt.
Überwachung dürfte Streitthema der Ampel-Regierung werden
So stellt er in Bezug auf die beiden Fälle aus Deutschland fest, dass eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung einer großen Vielzahl von Verkehrs- und Standortdaten nach der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zu weit geht. Die zeitliche Begrenzung heile diesen Mangel nicht. Er begründet dies mit der schweren Gefahr, die mit der allgemeinen Speicherung der Daten verbunden sei. Eine Ausnahme liege lediglich im Fall der Verteidigung der nationalen Sicherheit vor. Bis auf diesen Fall müsse die Speicherung von Daten über die elektronische Kommunikation selektiv erfolgen. Der Generalanwalt betont dabei, dass in jedem Fall der Zugang zu diesen Daten einen scherwiegenden Eingriff in die Grundrechte auf Familien- und Privatleben sowie den Schutz personenbezogener Daten darstelle – und zwar unabhängig von der Länge des Zeitraums, für den der Zugang zu diesen Daten begehrt werde.
Innenminister Horst Seehofer (CSU) nutzte seinen Abschiedsauftritt bei der Jahrestagung des Bundeskriminalamtes am Mittwoch auch für ein Appell in Sachen Vorratsdatenspeicherung, diese müsse endlich genutzt werden. "Ich habe nie verstanden, welch hysterische Abwehrreaktionen der Begriff hervorruft."
Das sicherheitspolitische Thema Überwachung dürfte für die neue Ampel-Regierung aus SPD, Grüne und FDP aber ein Streitthema werden. Während die SPD, gerade auch aus dem Haus von Justizministerin Lambrecht, sich immer wieder offen für Überwachungsinstrumente wie Vorratsdatenspeicherung oder Onlinedurchsuchung zeigte, sind Grüne und FDP gegen großzügigere Befugnisse.
Keine Rechtfertigung selbst bei schweren Straftaten
Auch bei dem Fall aus Irland bleibt der Generalanwalt dabei, dass die Fragen des irischen Supreme Courts vom EuGH bereits im März 2021 beantwortet worden sein. Er wiederholt, dass die allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten auch nicht zum Zweck der Verfolgung selbst schwerer Straftaten gerechtfertigt sei, sondern ausschließlich, um die nationale Sicherheit zu schützen. Eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit reiche nicht aus. Außerdem kritisiert er, dass der Zugang zu den Daten in Irland – entgegen der bisherigen EuGH-Rechtsprechung – keiner vorherigen Kontrolle eines Gerichts oder einer unabhängigen Behörde obliegt. Stattdessen hätten bereits Polizeibeamt:innen eines bestimmten Ranges Zugang. Ob dieser die Anforderungen des EuGH erfüllt, müsse der irische Supreme Court nun prüfen.
In Bezug auf die Vorabentscheidungsersuchen aus Frankreich verweist der Generalanwalt ebenfalls auf die bereits ergangene EuGH-Rechtsprechung vom März. Zwar gehe es hier um die Richtlinie und die Verordnung über Marktmissbrauch. Diese gewährten aber keine spezifischen und eigenständigen Befugnisse zur Datenspeicherung. Stattdessen erlaubten sie nur den Zugriff auf bereits bestehende Datenaufzeichnungen, die im Einklang mit der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (E-Privacy-Richtlinie) erfolgt sein müssen. Damit sei eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung auch hier ausgeschlossen.
Sánchez-Bordona zeigt sich in seinen Schlussanträgen mehrfach und deutlich unbeeindruckt von den Forderungen aus den Mitgliedstaaten. Das letzte Wort wird ohnehin der EuGH haben, der sein Urteil im Jahr 2022 verkünden möchte. Die Rechtsauffassung aus den Schlussanträgen ist für die Richter:innen dabei nicht bindend.
EuGH-Generalanwalt sieht Verstoß gegen Unionsrecht: . In: Legal Tribune Online, 18.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46679 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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