EuGH-Schlussanträge zu richterlicher Unabhängigkeit: Rumä­ni­sche Gerichte dürfen Ver­ein­bar­keit mit Uni­ons­recht prüfen

20.01.2022

Gegen Richter dürfen keine Disziplinarmaßnahmen verhängt werden, wenn sie eine nationale Bestimmung auf die Vereinbarkeit mit Unionsrecht hin prüfen. So der EuGH-Generalanwalt zu einem Fall aus Rumänien.

Nationale Gerichte müssen Bestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht überprüfen dürfen. Disziplinarverfahren und -strafen gegen diese Richter:innen zu verhängen, verstoße gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, so der Generalanwalt des Europäischen Gerichthofs (EuGH) Collins in seinen Schlussanträgen (v. 20.01.2022, Rs. C-430/21). Das gilt auch dann, wenn ein nationales Verfassungsgericht bereits die Vereinbarkeit der Bestimmung mit der Verfassung festgestellt hat. Dass Unionsrecht Vorrang vor der Rechtsprechung nationaler Verfassungsgerichte hat, entschied der EuGH in einem Fall aus Rumänien erst im Dezember 2021.

Eine Frau hatte gegen einen rumänischen Staatsanwalt und zwei Richter Strafanzeige erstattet, nachdem ihr Ehemann in einem Strafverfahren verurteilt worden war. Diese Strafanzeige wurde im sog. "Register der Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz (AUSJ)" registriert. Im Mai 2021 entschied der EuGH bereits, dass eine nationale Regelung, die die Errichtung des AUSJ vorsieht, nicht mit Unionsrecht vereinbar ist – vorausgesetzt, die Errichtung ist nicht durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt.

Allerdings stellte der rumänische Verfassungsgerichtshof daraufhin im Juni 2021 fest, dass es diese Regelungen bereits früher als verfassungsgemäß befunden habe und keinen Grund sehe, davon abzuweichen. Die rumänische Verfassung stelle zwar den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts sicher. Das dürfe aber nicht zu einer Aufgabe oder Missachtung der nationalen Verfassungsidentität führen.

Verstoß gegen richterliche Unabhängigkeit

Ein rumänisches Gericht möchte nun per Vorabentscheidungsersuchen vom EuGH wissen, ob rumänischen Richter:innen unter Androhung von Disziplinarverfahren und -strafen verwehrt sein kann, eine solche als verfassungsgemäß erklärte Bestimmung auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht hin zu überprüfen.

Generalanwalt Collins ist der Ansicht, dass das nationale Gericht an die vom EuGH vorgenommene Auslegung gebunden sei. Deshalb müsse es ggf. auch von der Beurteilung des nationalen Verfassungsgerichts abweichen. Halte ein Mitgliedstaat unionsrechtliche Bestimmungen nicht ein und berufe sich dabei auf seine nationale Identität, dann ginge das nur, wenn die Unionsrechtsbestimmungen eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft des Mitgliedstaats darstellten. Vage, allgemeine oder abstrakte Behauptungen reichten dafür jedoch nicht aus. Jedenfalls müsse jede Geltendmachung nationaler Identität die in Art. 2 EUV niedergelegten gemeinsamen Werte der Union achten. Die Entscheidung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs werfe diesbezüglich Zweifel auf.

Nationale Gerichte müssten, wenn sie Unionsrecht auslegen und anwenden, darin völlig autonom handeln können, ohne hierarchisch mit irgendeiner Stelle verbunden zu sein oder irgendwelche Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten. Eine solche Intervention stellten die Verfassungsgerichtsurteile wie das vom Juni 2021 dar. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit i.V.m. Art. 2 EUV und Art. 47 GRCH sei hier nicht gewahrt. Nationale Gerichte müssten befugt sein, die Vereinbarkeit nationaler Bestimmungen mit dem Unionsrecht auch dann zu prüfen, wenn der Verfassungsgerichtshof sie schon als verfassungsgemäß erachtet habe.

Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gebiete es ebenso, dass gegen einen Richter oder eine Richterin wegen einer solchen Prüfung kein Disziplinarverfahren eingeleitet oder Disziplinarstrafen verhängt werden.

pdi/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

EuGH-Schlussanträge zu richterlicher Unabhängigkeit: Rumänische Gerichte dürfen Vereinbarkeit mit Unionsrecht prüfen . In: Legal Tribune Online, 20.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47269/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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