Eine Bulgarin zog mit ihren drei Kindern nach Deutschland und beantragte Kindergeld für ihre ersten drei Monate hier. Da sie keinen Job in Deutschland hatte, lehnte die Familienkasse ab - zu Unrecht, wie der EuGH nun klarstellte.
Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem EU-Staat begründen, können während der ersten drei Monate des Aufenthalts nicht deshalb von der Kindergeldzahlung in Deutschland ausgeschlossen werden, weil sie kein Einkommen aus einem Job hierzulande haben. Wenn der Aufenthalt der Unionsbürgerinnen und -bürger rechtmäßig ist, sind sie genauso zu behandeln wie inländische Staatsangehörige. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf Vorlage des Finanzgerichts (FG) Bremen entschieden und damit, dass die entsprechende deutsche Regelung unionsrechtswidrig ist (Urt. v. 01.08.2022, Az. C-411/20).
Legitimer Schutz vor "Zustrom" in das Sozialhilfesystem?
In dem Fall war eine Mutter aus Bulgarien mit ihren drei Kindern nach Deutschland gezogen. Dort angekommen, beantragte sie bei der Familienkasse Niedersachsen-Bremen Kindergeld für ihre ersten drei Monate in Deutschland. Die Familienkasse lehnte den Antrag jedoch ab. Die Mutter müsse nach deutschem Recht nämlich "inländische Einkünfte" beziehen, um Kindergeld zu erhalten. Weder sie noch ihr Mann verdienten allerdings Geld in Deutschland.
Grund dieser deutschen Regelung ist, dass der Gesetzgeber einen "Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten" vermeiden wollte, der das deutsche System der sozialen Sicherheit unangemessen beanspruchen könne. Dementsprechend gilt diese Regel nicht für Deutsche, die von einem Aufenthalt in einem anderen EU-Mitgliedstaat zurückkehren.
Die Bulgarin klagte gegen die Entscheidung der Familienkasse und das FG Bremen hatte Zweifel daran, ob diese unterschiedliche Behandlung von Deutschen und Unionsbürgerinnen und -bürgern unionsrechtskonform sein kann. Das Gericht legte daher dem EuGH eben diese Frage vor (Vorlagebeschl. v. 20.8.2020, Az. 2 K 99/20 <1>).
Unionsrechtswidrige Ungleichbehandlung durch den deutschen Gesetzgeber
Der EuGH entschied nun, dass die deutsche Regelung in der Tat gegen das Unionsrecht verstößt. Jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger mit einem gültigen Ausweis oder Pass habe das Recht, sich bis zu drei Monate in einem anderen EU-Staat aufzuhalten - und zwar unabhängig davon, ob er wirtschaftlich aktiv sei oder nicht. Während dieser drei Monate sei der Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig und Unionsbürgerinnen und -bürger seien genauso zu behandeln wie Deutsche.
Seine Grenze finde dieser Grundsatz aber in einer unangemessenen Inanspruchnahme der Sozialleistungen des Aufnahmestaates. Mitgliedstaaten könnten "wirtschaftliche nicht aktiven Unionsbürgern" Sozialhilfeleistungen sehr wohl verweigern. Das Kindergeld, um das es im vorliegenden Fall allein gehe, sei aber keine Sozialhilfeleistung in diesem Sinne, da es in Deutschland unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit gewährt werde. Es bestünde daher keine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Unionsbürgerinnen und -bürgern gegenüber Deutschen, sodass die deutsche Regelung dem Unionsrecht entgegensteht.
Schließlich betont der EuGH aber eine weitere wichtige Voraussetzung für diese Gleichbehandlung. Es sei erforderlich, dass die jeweiligen Unionsbürgerinnen und -bürger ihren "gewöhnlichen Aufenthalt" in den jeweiligen Staat verlegt haben und nicht nur vorübergehend dort sind. Es müsse daher der tatsächliche Mittelpunkt der Lebensinteressen dort liegen und nachgewiesen werden, dass die Anwesenheit "hinreichend dauerhaft" sei.
ast/LTO-Redaktion
EuGH zum Ausschluss von staatlichen Leistungen: . In: Legal Tribune Online, 01.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49200 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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