Auch wenn es ihm eigentlich um Geheimhaltung geht, kann ein Staat sich auf das Urheberrecht berufen. Wenn er denn Urheberrechte hat. Und die Pressefreiheit nicht doch überwiegt.
Kann der Staat unter Berufung auf das Urheberrecht der Presse die Veröffentlichung brisanter Dokumente untersagen? Um diese Frage, im Internet gern verschlagwortet unter dem Hashtag "Zensurheberrecht", geht es seit dem Jahr 2013 an Gerichten durch alle deutschen Instanzen; und mittlerweile bis nach Luxemburg.
Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) hatte sich im vergangenen Oktober in seltener Eindeutigkeit positioniert. Er hielt es nicht für rechtlich zulässig, dass die Bundesrepublik Deutschland der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) unter Berufung auf ihr Urheberrecht untersagen wollte, militärische Berichte über die Lage in Afghanistan zu veröffentlichen.
Die Richter am EuGH haben sich dem am Montag nicht angeschlossen. Sie urteilten weniger eindeutig und fordern eine Abwägung im Einzelfall. Auch ein Staat könne sich auf den Urheberrechtsschutz an Dokumenten berufen. Allerdings muss, so der EuGH, das nationale Gericht prüfen, ob ein solcher Urheberrechtsschutz an einem militärischen Lagebericht überhaupt besteht. Und auch wenn das der Fall ist, kann die Presse sich ihrerseits auf Ausnahmen und Beschränkungen der Urheberrechtsrichtlinie berufen; in diesem Fall auf die Berichterstattung über Tagesereignisse, die von großem öffentlichem Interesse sind (EuGH, Urt. v. 29.07.2019, Az. C-469/17).
Warum die WAZ die Afghanistan-Papiere veröffentliche
Bei den veröffentlichten Dokumenten, von der WAZ als Afghanistan-Papiere bezeichnet, handelt es sich um "Unterrichtungen des Parlaments". Das sind Unterlagen, mit deren Hilfe das Ministerium wöchentlich bestimmte Abgeordnete des Deutschen Bundestags, Referate im Bundesministerium der Verteidigung, andere Bundesministerien sowie bestimmte dem Bundesministerium der Verteidigung unterstehende Dienststellen über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan informiert. Abgestempelt sind diese Unterlagen mit "VS – nur für den Dienstgebrauch", die niedrigste von vier Geheimhaltungsstufen.
Die zur Funke Mediengruppe gehörende WAZ hatte die Dokumente, deren Herausgabe die Bundeswehr ihr verweigert hatte, auf anderem Wege erhalten und im Jahr 2013 auf Ihrem Portal Der Westen veröffentlicht.
Zur Begründung gaben die Journalisten an, den Kriegsverlauf in Afghanistan für die Öffentlichkeit besser nachvollziehbar machen zu wollen. Durch die Veröffentlichung sei belegt worden, dass die Bundesregierung seit langem die Lage in Afghanistan "schöngeredet" habe. Aus den Originaldokumenten der Bundeswehr gehe hervor, dass schon seit Jahren keine Rede von einer Friedensmission mehr sein könne, obwohl Politiker das immer wieder behauptet hätten.
Seitdem geht das Bundesverteidigungsministerium gegen die Journalisten vor und beruft sich dabei auf das Urheberrecht an den Dokumenten. Das ist eine formal anmutende Argumentation, die neben dem Begriff des "Zensurheberechts" unter Urheberrechtlern schon zur spöttischen Bezeichnung "Supergrundrecht" führte.
Urheberrecht vs. Informations- und Pressefreiheit
Natürlich stört den Staat bei Veröffentlichung brisanter Dokumente nicht, dass das Urheberrecht eines Soldaten - oder dann eben seines Dienstherrn, des Ministeriums - verletzt wird. Es geht nicht darum, geistiges Eigentum eines Kreativen vor der unentgeltlichen Nutzung schützen. Sondern die Bundesregierung zweckentfremdet das Urheberrecht, um die Dokumente geheim zu halten. Fakt ist aber: Wenn man sich einmal in der urheberrechtlichen Prüfung befindet, kommt man, formal betrachtet, über die Schranken des deutschen Rechts kaum mehr wieder heraus. Wenn keine der Schranken des Urheberrechts greift, bleibt es beim ausschließlichen Recht des Urhebers an seinem Werk.
So bekam die Bundesrepublik auch in den ersten beiden Instanzen Recht. Die Richter am Land- und Oberlandesgericht Köln entschieden, dass es sich bei den Dokumenten um urheberrechtlich geschützte Sprachwerke handele. Deren unbefugte Veröffentlichung verletze das aus § 12 Urheberrechtsgesetz (UrhG) folgende Erstveröffentlichungsrecht, das der Bundesrepublik als Dienstherrin der eigentlichen Urheber – der Soldaten – zustehe.
Nicht ganz so leicht macht es sich der Bundesgerichtshof (BGH). Obwohl sie offenbar ebenfalls dazu tendierten, nach deutschem Urheberrecht keine Veröffentlichungserlaubnis anzunehmen, legten die Karlsruher Richter dem EuGH mehrere Auslegungsfragen mit Blick auf die europäische Urheberrechtsrichtlinie (2001/29) vor. Generalanwalt Maciej Szpunar wiederum wurde sehr deutlich, allerdings in die andere Richtung: Das Urheberrecht könne nicht als Abwehrargument gegen Journalisten zweckentfremdet werden, heißt es in seinen Schlussanträgen.
Künftig kreative Lageberichte von der Armee?
Der EuGH schließt sich seinem Generalanwalt nur insoweit an, als er darauf hinweist, dass es Sache der deutschen Gerichte sei, zu bestimmen, ob militärische Lageberichte überhaupt vom Urheberrecht geschützte Werke sind. Der Generalanwalt hatte daran bei den reinen Informationsberichten massive Zweifel angemeldet.
Auch der EuGH scheint eher nicht davon auszugehen, dass militärische Lageberichte per se ein Werk im Sinne von Art. 2 a, Art. 3 a Abs. 2 der Richtlinie wären. Sie könnten, so heißt es im Urteil, "nur unter der Voraussetzung urheberrechtlich geschützt sein, dass es sich bei ihnen um eine geistige Schöpfung ihres Urhebers handelt, in der seine Persönlichkeit zum Ausdruck kommt und die sich in seinen bei ihrer Ausarbeitung frei getroffenen kreativen Entscheidungen ausdrückt". Man darf gespannt sein, ob die Bundeswehr kreativere Lageberichte zu schätzen wissen wird.
Ab diesem Punkt nun weicht der EuGH von der Einschätzung des Generalanwalts ab. Die Richter lehnen das Urheberrecht als Instrument zur Geheimhaltung nicht ab. Sie halten dieses, so denn Urheberrechtsschutz besteht, vielmehr für grundsätzlich tragfähig. Und von diesem ausschließlichen Schutz des Urhebers könnten die Gerichte auch nicht, im Rahmen einer quasi übergeordneten Abwägung, aus Gründen der Informations- und Pressefreiheit abweichen, so die Große Kammer.
EuGH: Afghanistan-Papiere durften wohl veröffentlicht werden
Und doch machen die Richter den Weg frei für eine Prüfung, die über das hinausgeht, was die deutsche Fachgerichtsbarkeit bislang geprüft hat. Und sie nehmen das Ergebnis weitgehend vorweg: Sie gehen davon aus, dass die Veröffentlichung der Afghanistan-Papiere als Berichterstattung über Tagesereignisse zulässig war.
Diese in Art. 5 Abs. 3 c, 2. Fall der Urheberrechtsrichtlinie vorgesehene Ausnahme gibt der Pressefreiheit beim Bericht über Ereignisse von öffentlichem Interesse den Vorrang gegenüber dem Schutz des Urhebers. Der EuGH hält sie in diesem Fall auch für einschlägig; und stellt sich damit gegen den BGH, der nicht davon ausging, die Vorschrift auf die Afghanistan-Papiere anwenden zu können, weil die WAZ diese nicht in Verbindung mit einer gesonderten Berichterstattung veröffentlicht hatte.
Der EuGH dagegen stellt darauf ab, dass die Funke Mediengruppe die Dokumente keineswegs bloß online gestellt, sondern durchaus in systematischer Form präsentiert habe. Sie seien mit einem Einleitungstext versehen worden, ebenso mit weiterführenden Links und einer Einladung zur interaktiven Partizipation. Damit greifen die Luxemburger Richter auf Grundsätze aus der Rechtsprechung ihrer Kollegen in Straßburg zurück. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nämlich stellt bei der Abwägung zwischen Urheberrecht und freier Meinungsäußerung im Rahmen politischer Auseinandersetzungen oder bei Veröffentlichungen von allgemeiner Bedeutung ganz besonders auf die Art der Veröffentlichung ab.
Neben dieser Sachentscheidung in Sachen "Zensurheberrecht" enthält das Urteil aus Luxemburg wichtige Ausführungen zum Spielraum der deutschen Gerichte bei der Auslegung und Ausgestaltung urheberrechtlicher Vorschriften. Ausschließlich bei der Prüfung der Schranken der Berichterstattung über tagesaktuelle Ereignisse (§ 50 UrhG) sowie beim Zitatrecht (§ 51 UrhG) räumt der EuGH ihnen einen Spielraum ein, weil die EU-Vorschriften nicht abschließend regelten. Diese urheberrechtlichen Schranken müssten die Gerichte dabei, obgleich sie in Art. 5 der Richtlinie als Ausnahmen bezeichnet sind, auch keineswegs allzu restriktiv auslegen. Schließlich regelten sie, obgleich betitelt als Ausnahmen und Beschränkungen, ihrerseits selbst Rechte der Nutzer und sollten einen Ausgleich schaffen zwischen deren rechtlich verbrieften Interessen und den Interessen der Urheber.
Obwohl "Zensurheberrecht" zugunsten des Staates möglich: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36741 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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