Bürgerrechtler und Juristen schlagen Alarm: Im Zuge einer radikalisierten Migrationspolitik würden in Deutschland das Recht an sich sowie die Institutionen des Rechtsstaats zunehmend angezweifelt - auch von demokratischen Parteien.
Wenige Tage vor der Bundestagswahl haben sich am Mittwoch sechs Bürgerrechts- und Berufsorganisationen aus dem juristischen Bereich in einer gemeinsamen Erklärung an die Öffentlichkeit gewandt und vor einer massiven Erosion des Rechtsstaats gewarnt.
Man sei von früheren Wahlkämpfen diverse "überzogene Law and Order-Forderungen" gewohnt, schreiben die Initiatoren. Dieser Wahlkampf habe aber eine andere, gefährliche Qualität: "Im Zuge einer radikalisierten Migrationspolitik, die durch den Aufstieg der AfD in den Wahlumfragen begünstigt wird, werden das Recht an sich und die Institutionen des Rechtsstaats, allen voran die Gerichte und die Rechtsanwaltschaft, auch von demokratischen Parteien offen in Zweifel gezogen."
Unterzeichnet haben die Erklärung die Humanistische Union (HU), das Komitee für Grundrechte und Demokratie, die Neue Richtervereinigung (NRV), der Postmigrantische Jurist:innenbund, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).
"Zu Feinden des Staates erklärt"
Im kürzlich im Bundestag beschlossenen Fünf-Punkte-Plan der Union zur Verschärfung der Asyl- und Migrationspolitik, dem auch FDP, BSW und AfD zugestimmt hatten, werde "unverhohlen" der Bruch mit Europa- und Verfassungsrecht gefordert. "Durch einen kalkulierten Rechtsbruch qua permanenter Grenzkontrollen soll Druck auf die europäische Gesetzgebung ausgeübt werden. Ob Urteile des Europäischen Gerichtshofs noch umgesetzt werden, ist zu einer offenen Frage geworden", so die Unterzeichner.
Besorgt nehmen die sechs Organisationen auch einen zunehmenden "exekutiven Ungehorsam" seitens der Politik wahr: "Hinter vorgehaltener Hand sprechen Politiker:innen aus den Reihen der CDU laut Medienberichten bereits von den 'Scheiß-Gerichten'. Sie stoßen in eine rhetorische Kerbe, die unter den extrem rechten Regierungen in Italien, Polen und in Ungarn bereits autoritär umgeschlagen ist: Richter:innen werden zu Feinden des Staates erklärt."
Nicht verschont von der Kritik der Bürgerrechtler werden in ihrer Erklärung auch SPD und Grüne: Diese hätten in der denkwürdigen Sitzungswoche des Bundestages Ende Januar zwar rhetorisch den Rechtsstaat hochgehalten, aber auch sie selbst hätten zuvor in der Migrations- und Sicherheitsgesetzgebung europa- und verfassungswidrige Vorhaben vorangetrieben: "Darunter zuletzt die Kontrollen an den deutschen EU-Binnengrenzen und das 'Sicherheitspaket' vom 18. Oktober 2024."
"Recht nicht durch Faustschlag hinwegfegen"
In ihrem Statement vom Mittwoch wenden sich die Unterzeichner auch gegen das "von Politiker:innen und Teilen der Medien" vorgebrachte Argument, das Recht dürfe nicht gegen den Willen des Volkes stehen: "Richtig ist, dass das Recht immer das Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist. Aber unteilbare Grund- und Menschenrechte dürfen in politischen Verhandlungen nicht zur Disposition stehen." Recht lasse sich nicht mit einem Faustschlag von Regierungsvertretern auf den Tisch hinwegfegen, sondern müsse selbst Gegenstand von Verfahren im Parlament oder mit Partnern aus anderen Ländern sein.
Die von den Organisationen ausgemachte Entwicklung betreffe im Übrigen nicht nur die Migrationspolitik: "Der erstarkende Autoritarismus manifestiert sich auch dort, wo die Wissenschaftsfreiheit missachtet, das Streikrecht angegriffen, das Versammlungsrecht eingeschränkt und Anwält:innen in Klimaschutzverfahren als vermeintliche Gegner:innen der Demokratie gebrandmarkt werden."
DAV mit Fünf-Punkte-Papier zum Migrationsrecht
Unterdessen präsentierte auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) am Mittwoch ein Fünf-Punkte-Papier, in dem der Verband von der künftigen Bundesregierung "einen sachlichen, rechtsstaatlichen Umgang mit dem Thema Einwanderung" erwartet. "Unsere historische Verantwortung als Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention gebietet den Schutz von Menschen in Not", so Rechtsanwältin Gisela Seidler, Vorsitzende des Ausschusses Migrationsrecht des DAV. Die Migrationspolitik der vergangenen Jahre, so Seidler, kenne vor allem eine Richtung: Verschärfung von Regelungen, Verkürzung von Verfahrensgarantien und Abwehr von Menschen.
In seinem Papier spricht sich der DAV unter anderem für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes aus. Leistungsberechtigte seien in die regulären Sozialsysteme zu integrieren, um das menschenwürdige Existenzminimum sicherzustellen. "In jedem Fall sind grundrechtsrelevante Einschränkungen, etwa im Rahmen der Bezahlkarte, zu beseitigen."
Außerdem, so der DAV, bedürfe das Aufenthaltsgesetz einer umfassenden Entschlackung und Modernisierung. "Verfahrenszeiten müssen verkürzt und Migrationsbehörden besser ausgestattet werden. Routineverfahren müssen auch ohne anwaltliche Unterstützung rechtsstaatliche Ergebnisse produzieren."
Juristenverbände kritisieren Migrationswahlkampf: . In: Legal Tribune Online, 19.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56633 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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