Vor einem Jahr stellte das BVerfG klar: Hartz-IV-Bezieher dürfen durch Sanktionen nicht zu hart getroffen werden. Wie ist die Praxis heute? Wann werden die Vorgaben aus Karlsruhe in ein Gesetz gegossen?
Ein Jahr ist es her, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger stark eingeschränkt hat. Die Behörden dürfen ihnen wegen Verfehlungen nun nicht mehr so stark an den Geldbeutel gehen. Jetzt pochen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Grünen und die FDP auf eine Umsetzung per Gesetz von dem, was die Karlsruher Richter vor einem Jahr sagten - und darüber hinaus. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bleibe bis heute eine Umsetzung des Urteils schuldig, sagte der Grünen-Sozialexperte Sven Lehmann der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel warf SPD und Union vor, "die dringend erforderliche Gesetzesnovelle auf die lange Bank zu schieben". Und auch die FDP hält Reformen des Sanktionssystems für notwendig.
Für das Arbeits- und Sozialministerium stehe weiterhin das Ziel, die Regelungen zur Grundsicherung zu entbürokratisieren und zu modernisieren. "Hierfür wird etwa der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung über das Jahr 2020 hinaus verlängert", sagte ein Sprecher. Das Urteil aus Karlsruhe müsse als Auftrag an den Gesetzgeber verstanden werden, das Recht der Leistungsminderungen verfassungskonform zu gestalten. Vorschläge dazu müssten abgewartet werden.
Weniger Sanktionen wegen Corona
Nach dem Prinzip "Fördern und Fordern" disziplinieren die Jobcenter seit 2005 unkooperative Hartz-IV-Empfänger, indem sie ihnen den Geldhahn zudrehen. Das BVerfG hatte am 5. November 2019 entschieden, dass monatelange Minderungen um 60 Prozent oder mehr mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Die Jobcenter dürfen die monatlichen Leistungen aber weiter um bis zu 30 Prozent kürzen, wenn Hartz-IV-Empfänger ihren Pflichten nicht nachkommen. Heil hatte das Urteil als Gelegenheit bezeichnet, "in dieser Koalition das gesamte System bürgerfreundlicher zu machen und zu reformieren". Der Gesetzgeber ist nun gefordert, die Vorgaben aus Karlsruhe in langfristig verbindliche Regelungen zu gießen.
Seit dem Urteil wurde die alte Sanktionspraxis lediglich durch Weisungen des Arbeitsministeriums und der Bundesagentur entschärft - nicht jedoch durch ein neues Gesetz. Durch die Corona-Pandemie gab es zudem immer weniger Sanktionen. Im April mussten die Jobcenter wegen der Pandemie ihre Häuser vorübergehend für den Publikumsverkehr schließen. Die Zahl neu festgestellter Sanktionen sank laut Bundesagentur für Arbeit (BA) von 66.275 im November 2019 auf 25.884 im April 2020 und brach dann auf 6.013 im Monat darauf ein - bis in den Sommer wurden praktisch ausschließlich Altfälle aufgearbeitet.
Nun fordern die Grünen, FDP und der DGB die von Heil in Aussicht gestellten strukturellen Veränderungen ein. Lehmann sagte: "Dass die Jobcenter immer noch angehalten sind, Sanktionen bei Meldeversäumnissen oder Pflichtverletzungen zu verhängen, ist absurd." Die Corona-Krise treffe Menschen mit keinem oder geringem Einkommen besonders hart. "Umso dringlicher ist es, sofort ein Sanktionsmoratorium bis zur gesetzlichen Neuregelung zu verhängen."
FDP spricht von "bedingungslosem Grundeinkommen durch die Hintertür"
DGB-Vorstandsmitglied Piel, die auch im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit sitzt, sagte der dpa: "Die Hartz-IV-Regelsätze sind auf Kante genäht, deshalb wird mit jeder einzelnen Sanktion das Existenzminimum der Leistungsempfänger unterschritten." Der Gesetzgeber müsse nachbessern. Menschen dürften nicht prekäre Arbeit annehmen müssen, um Sanktionen zu umgehen.
Der Vorstandschef der Bundesagentur, Detlef Scheele, will sich das Mittel der Sanktionen allerdings nicht ganz aus der Hand nehmen lassen. "Um den Menschen helfen zu können, müssen wir aber auch mit ihnen in Kontakt bleiben", sagte er der dpa. "Wir brauchen eine Handhabe, wenn sich Einzelne entziehen und zum Beispiel Termine nicht wahrnehmen." Im Großen und Ganzen komme es aber nur zu wenigen echten Verstößen.
Auch der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober, spricht sich für den Erhalt von Sanktionen aus: "Ein gänzlicher Verzicht auf Sanktionen wäre das bedingungslose Grundeinkommen durch die Hintertür", sagte Kober der dpa. Reformen des Sanktionssystems seien allerdings zwingend notwendig. So sei es etwa erforderlich, die Sanktionen bei Jugendlichen unter 25 Jahren verpflichtend mit einem Coaching durch die Jugendhilfe zu begleiten. Heil fehle allerdings "jedes Interesse an Verbesserungen für die Menschen in Hartz IV", so Kober.
dpa/acr/LTO-Redaktion
Ein Jahr nach Karlsruher Urteil: . In: Legal Tribune Online, 05.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43335 (abgerufen am: 04.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag