Der EGMR hat eine Beschwerde der Kinder von Oliver Kahn abgewiesen. Sie hatten unter Berufung auf Artikel 8 EMRK geltend gemacht, die deutsche Rechtsordnung schütze sie nicht hinreichend vor Paparazzi-Aufnahmen. Der EGMR sah dies anders.
Die Diskussion darüber, ob die deutsche Rechtsordnung und die deutschen Gerichte Prominente und ihre Kinder hinreichend vor unzulässigen Aufnahmen und deren Verbreitung in der Boulevardpresse schützen, ist nicht neu. Auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sie nicht zum ersten Mal beschäftigt. So hatte er 2004 in seiner viel beachteten Caroline von Hannover-Entscheidung in Deutschland ein gewisses Schutzdefizit festgestellt und gefordert, klarer zwischen einer durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigten Berichterstattung und der bloßen Befriedigung der Neugier von Teilen des Publikums zu unterscheiden.
Die im Anschluss an diese Entscheidung teilweise geäußerten Befürchtungen, die Pressefreiheit werde weitreichend eingeschränkt, haben sich nicht bestätigt. Die deutschen Gerichte haben die Vorgaben des EGMR mit dem sogenannten "abgestuften Schutzkonzept" sorgfältig umgesetzt. Und der EGMR hat in weiteren Entscheidungen deutlich gemacht, dass der Presse auch über die politische Berichterstattung hinaus ein erheblicher Beurteilungs- und Berichterstattungsspielraum verbleibt.
Der "Fall Kahn"
Dass damit nicht alle Fragen beantwortet sind, zeigt der Fall zweier Kinder des früheren deutschen Nationaltorhüters Oliver Kahn. Was war passiert? Die "Neue Woche" und "Viel Spaß" aus dem Hause Burda veröffentlichten in den Jahren 2004 und 2007 bis 2009 in insgesamt neun Fällen Aufnahmen, die die Tochter und/oder den Sohn von Kahn in Eltern-Kind-Situationen, insbesondere im Urlaub, zeigten (ihre Gesichter waren entweder nicht zu sehen oder verpixelt).
Im Anschluss an die ersten vier Veröffentlichungen gab der Verlag jeweils auf die konkreten Veröffentlichungen bezogene Unterlassungserklärungen ab. Er lehnte aber ab, sich zu verpflichten, künftig gar keine Bilder der beiden Kinder mehr zu veröffentlichen. Daraufhin erwirkten die Kinder Kahn im Januar 2005 ein Urteil des Landgerichts Hamburg, das dem Verlag pauschal – also unabhängig von dem konkreten Bild und dem konkreten Kontext der Berichterstattung – verbot, Bilder von ihnen zu veröffentlichen.
Verlag veröffentlichte weiter
Dieses "verallgemeinernde Veröffentlichungsverbot" hielt den Verlag nicht davon ab, in mindestens fünf weiteren Fällen doch Fotos der beiden Kinder von Oliver Kahn abzudrucken. Die Kinder ließen daraufhin gegen den Verlag Zwangsgelder in steigender Höhe verhängen (je 5.000 Euro, 7.500 Euro, 15.000 Euro). Einen vierten Zwangsgeldantrag nahmen sie zurück, nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) – in einem anderen Fall – entschieden hatte, dass pauschale Veröffentlichungsverbote, wie sie auch im Fall Kahn ergangen waren, unzulässig sind. Die Rechtmäßigkeit einer Veröffentlichung, so der BGH im November 2007 und erneut 2009 in einem Fall, der die (damals) minderjährige Tochter von Franz Beckenbauer betraf, könne nicht pauschal vorab, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung des konkreten Kontexts eines Fotos beurteilt werden.
Ende 2007 hatten die Kinder von Oliver Kahn genug. Sie verklagten den Verlag wegen der hartnäckigen Persönlichkeitsrechtsverletzungen auf eine Geldentschädigung von jeweils 40.000 Euro. Sie gewannen in erster Instanz, verloren aber vor dem Oberlandesgericht und dem BGH. Für eine Geldentschädigung bestehe kein "unabwendbares Bedürfnis". Tochter und Sohn Kahn hätten aufgrund des Urteils des Landgerichts Hamburg vom Januar 2005 bereits Zwangsgelder gegen den Verlag erwirkt. Dies könnten sie auch weiterhin tun und so den Druck auf den Verlag erhöhen. Damit werde dem Genugtuungs- und Präventionszweck der Geldentschädigung genüge getan – auch wenn die Zwangsgelder an die Staatskasse flössen und es um hartnäckige Persönlichkeitsverletzungen gehe. Das Bundesverfassungsgericht nahm die hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung an.
Verstoß gegen die Schutzpflicht?
Daraufhin wandten sich die Kahns an den EGMR. Sie beriefen sich auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Der Kern ihrer Argumentation ist schnell zusammengefasst: Artikel 8 EMRK verpflichte Deutschland nicht nur, sich eines staatlichen Eingriffs in das Privat- und Familienleben zu enthalten. Deutschland müsse seinen Bürgern auch Schutz vor privaten Eingriffen in ihr Privat- und Familienleben gewähren. Diese Schutzpflicht habe der deutsche Staat verletzt, weil seine Rechtsordnung die Beschwerdeführer gegenüber den hartnäckigen Persönlichkeitsrechtsverletzungen seitens Burda nicht hinreichend schütze. Nur eine Geldentschädigung in entsprechender Höhe wäre im vorliegenden Fall in der Lage gewesen, den Verlag von weiteren rechtswidrigen Bildveröffentlichungen abzuhalten. Die verhängten Zwangsgelder seien demgegenüber zu niedrig und Unterlassungsansprüche könnten nur im Nachhinein durchgesetzt werden. Zudem entfalte das Pauschalverbot des Landgerichts Hamburg aus dem Jahr 2005 aus ihrer Sicht keine Wirkung mehr, nachdem der BGH solche Verbote für unzulässig erklärt habe.
Verkürzt gesagt: Solange eine Persönlichkeitsrechtsverletzung keine spürbaren Folgen auf dem Konto des Verlags hinterlasse, bleibe sie ein lohnendes Geschäft. Im vorliegenden Fall setze ein hinreichender Persönlichkeitsschutz daher zwingend einen Geldentschädigungsanspruch voraus.
EGMR billigt Deutschland Beurteilungsspielraum zu
Der EGMR ist dem nicht gefolgt. Zwar ergebe sich aus Artikel 8 EMRK eine positive Verpflichtung der Konventionsstaaten – und damit auch Deutschlands –, das Privat- und Familienleben vor Beeinträchtigungen durch die Medien und ihre Berichterstattung zu schützen. Es gebe aber verschiedene Wege, dieser Verpflichtung gerecht zu werden; Geldentschädigungsansprüche seien nur ein solcher Weg. Solange im Ergebnis ein ausreichendes Schutzniveau gewährleistet sei, seien die Mitgliedstaaten in der Wahl ihrer Mittel frei und insbesondere nicht verpflichtet, Geldentschädigungsansprüche vorzusehen.
Deutschland habe diesen Beurteilungsspielraum im Fall Kahn nicht überschritten. Dies begründet der EGMR mit den Umständen des Einzelfalls: Die Zwangsgelder seien in steigender Höhe und in zügigen Verfahren festgesetzt worden. Deren Höhe hätten die Beschwerdeführer in den jeweiligen Verfahren nicht beanstandet. Die Gesamthöhe der Zwangsgelder belaufe sich zudem auf 68 Prozent der Entschädigungsforderung der Kinder. Auch seien die Persönlichkeitsrechtsverletzungen nicht von besonderer Schwere gewesen, zumal die Gesichter der Kinder verpixelt worden oder nicht zu sehen gewesen seien. Weiter sei nach der deutschen Rechtsprechung ein Geldentschädigungsanspruch nicht immer dann ausgeschlossen, wenn auch ein Zwangsgeld beantragt werden könne. Soweit die Beschwerdeführer argumentierten, das Pauschalverbot des Landgerichts Hamburg sei nicht mehr vollstreckbar, stehe dies nicht fest. Der BGH habe vielmehr offengelassen, ob aus bereits rechtskräftigen Pauschalverboten nicht doch weiter vollstreckt werden könne.
EGMR weist Beschwerde der Kinder von Oliver Kahn ab: . In: Legal Tribune Online, 17.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18824 (abgerufen am: 03.10.2024 )
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