EGMR zum Giftmüll im "Land der Feuer": Ita­lien hat zu wenig gegen die Öko­mafia getan

von Dr. Franziska Kring

30.01.2025

Über viele Jahre betrieb die neapolitanische Mafia Hunderte illegale Mülldeponien – mit schweren gesundheitlichen Folgen für die Bewohner. Italien habe davon gewusst, aber zu wenig zum Schutz der Bevölkerung unternommen, so der EGMR jetzt.

Als "Terra dei Fuochi" (Land der Feuer) erlangte ein Gebiet in Kampanien, zwischen Neapel und Caserta, traurige Berühmtheit. Insgesamt leben dort knapp drei Millionen Menschen in 90 Gemeinden. Seit den 1980er-Jahren hatte die Mafia hier Millionen Tonnen gefährlicher Abfälle illegal verbrannt oder im Boden vergraben und so ein lukratives Geschäftsmodell aufgebaut. Für die Bewohner hatte das katastrophale Folgen: Das Grundwasser ist kontaminiert, außerdem wurden insbesondere im "Dreieck des Todes" zwischen Neapel, Caserta und Nola erhöhte Krebsraten festgestellt. Erwachsene, aber auch zahlreiche Kinder starben an aggressiven Verläufen von Krebserkrankungen.

Die italienischen Behörden hätten seit vielen Jahren von der Situation gewusst. Dennoch hätten sie zu wenig unternommen, um die Bewohner der "Terra dei Fuochi" vor den Folgen der illegalen Müllverbrennung zu schützen, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Insbesondere nannte der Gerichtshof eine fehlerhafte Bewertung der Situation sowie eine mangelhafte Kommunikation mit der Öffentlichkeit.

Unter anderem Anwohner der betroffenen Regionen hatten sich an den Gerichtshof in Straßburg gewendet. Durch seine Untätigkeit habe Italien deren Recht auf Leben aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt, entschied eine siebenköpfige Kammer des EGMR (Urt. v. 30.01.2025, Cannavacciuolo and Others v. Italy, Beschwerde-Nr. 51567/14 u.a.).

"Umweltkatastrophe, vergleichbar nur mit der Ausbreitung der Pest"

Über Jahre hinweg hatten organisierte kriminelle Gruppen zahlreiche illegale Mülldeponien in Kampanien errichtet. Häufig wurden große Gruben auf landwirtschaftlichen Flächen ausgehoben und dann abgedeckt, die Flächen danach dann wieder landwirtschaftlich genutzt. 

Die Landschaft im Norden Neapels glich einem "Sammelbecken für Abfälle aller Art", heißt es in einem Bericht eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Auch Autoreifen wurden entsorgt und verbrannt, teilweise seien ganze Berge in Rauch aufgegangen. Ein anderer Bericht bezeichnete die Situation in der "Terra dei Fuochi" als "Umweltkatastrophe vergleichbar nur mit der Ausbreitung der Pest im 17. Jahrhundert".

41 Anwohner der betroffenen Regionen und fünf Umweltorganisationen aus Kampanien hatten in den Jahren 2014 und 2015 Individualbeschwerden zum EGMR erhoben. 

Die Beschwerden der Organisationen sah der EGMR als unzulässig an, denn ihnen fehle die notwendige Opfereigenschaft. Nach Art. 34 EMRK muss man bei Individualbeschwerden geltend machen, durch eine Maßnahme direkt oder indirekt in eigenen Rechten betroffen zu sein. Die Beschwerden mancher Einzelkläger, die nicht in den betroffenen Gemeinden wohnen, waren ebenfalls unzulässig. Die anderen Beschwerden sind aber zulässig und begründet, so der EGMR, der eine Verletzung des Rechts auf Leben aus Art. 2 EMRK annahm.

Italienische Behörden haben zu spät reagiert

Es habe eine "hinreichend ernste, tatsächliche und feststellbare" Gefahr für das Leben der Antragsteller bestanden, so der EGMR. Insbesondere könne sich Italien nicht darauf berufen, dass man nicht genau feststellen könne, welche konkreten Auswirkungen die Verschmutzung auf die Gesundheit bestimmter Antragsteller habe. 

Der Gerichtshof sah keine ausreichenden Beweise für eine systematische und koordinierte Reaktion der Behörden auf die Situation in der "Terra dei Fuochi", vielmehr seien sie nur schleppend vorangekommen. Auch jetzt sei unklar, welche Gebiete noch dekontaminiert werden müssten. 

Die Behörden hätten zwar zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die Gesundheit der Bevölkerung zu untersuchen, zum Beispiel sei die Krebsvorsorge ausgebaut worden. Allerdings sei das alles erst nach 2013 passiert – und damit zu spät. Auch die strafrechtliche Aufarbeitung der Vorwürfe sei unzureichend gewesen. Die Regierung habe nur sieben Beispiele für Verurteilungen wegen Umweltdelikten vorgelegt.

Der EGMR stellte auch Defizite in der Kommunikation der Behörden fest. Die Öffentlichkeit hätte proaktiv über die Gesundheitsrisiken und über Maßnahmen zur Bewältigung der Risiken aufgeklärt werden müssen. Dies sei nicht passiert, vielmehr hätten einige Informationen sogar über längere Zeit der Geheimhaltung unterlegen.

Pilotverfahren vor dem EGMR

Aufgrund dieser systematischen Mängel seitens des italienischen Staates in der Aufarbeitung der Umweltverschmutzung und der Vielzahl der betroffenen Personen wendet der EGMR das sogenannte Pilotverfahren an, eine Art Musterverfahren.

Italien muss jetzt eine umfassende Strategie ausarbeiten, um die Umweltkatastrophe in der "Terra dei Fuochi" zu bewältigen und einen unabhängigen Überwachungsmechanismus und eine Plattform zur Information der Öffentlichkeit einrichten. Hierfür hat das Land nach Rechtskraft des Urteils zwei Jahre Zeit. In dieser Zeit werden die 36 weiteren anhängigen Anträge von rund 4.700 Antragstellern vertagt.

Eine Entscheidung über möglichen immateriellen Schadensersatz hat sich der EGMR ebenfalls für diesen Zeitraum vorbehalten.

Zitiervorschlag

EGMR zum Giftmüll im "Land der Feuer": . In: Legal Tribune Online, 30.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56479 (abgerufen am: 17.03.2025 )

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