Der EGMR hält das Verschleierungsverbot in Belgien nicht für diskriminierend. Auch eine mehrtägige Gefängisstrafe sei im Zweifel verhältnismäßig. Die Straßburger Richter beschritten damit den einfachen Weg.
Das in Belgien 2011 eingeführte Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum verstößt nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dies entschied am Dienstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (Urt. v. 11.07.2017, Az. 37798/13 u. a.).
Das belgische Gesetz untersagt seit dem 1. Juni 2011 das Tragen von Kleidung im öffentlichen Raum, welche das Gesicht ganz oder zum Teil verhüllt. Dagegen klagten zwei muslimische Frauen, eine Belgierin und eine Marokkanerin, die aus Glaubensgründen den Niqab trugen. Dabei handelt es sich um eine islamische Bekleidung, die den ganzen Körper verhüllt und lediglich ein Schlitz für die Augen frei lässt.
Sie rügten im Wesentlichen eine Verletzung ihrer Religionsfreiheit aus Art. 9, ihrer Privatsphäre aus Art. 8 und des Diskriminierungsverbots aus Art. 14 EMRK. Die Beschwerdeführerinnen erklärten, sie hätten erhebliche Einschränkungen ihres Lebens durch das Verbot erlitten. Eine der Frauen gab an, sie habe nach anfänglichem Protest den Schleier abgenommen aus Furcht, auf der Straße angehalten und möglicherweise ins Gefängnis gesteckt zu werden. Die andere Beschwerdeführerin erklärte, dass sie seit dem das Haus nicht mehr verlasse, was ihr Privat- und Sozialleben stark eingeschränkt habe.
Gesetzgeber darf Regeln für gesellschaftliches Zusammenleben aufstellen
Die Kammer des EGMR wies die Beschwerden der beiden Frauen ab. Wie schon im Fall S.A.S/Frankreich (Urt. v. 01.07.2014, Az. 43835/11) enthielt sich der Gerichtshof einer eingehenden Beurteilung der Regelung und verwies im Wesentlichen auf die Kompetenz der Einzelstaaten, zu regeln, was für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig sei: "[...] the State authorities were in principle better placed than an international court to assess the local needs and context", heißt es in dem bisher nur auf Englisch verfügbaren Urteil.
Der belgische Gesetzgeber habe in seinem Kompetenzrahmen die Entscheidung getroffen, dass die Gesichtsverschleierung nicht mit der belgischen Gesellschaft, der sozialen Kommunikation und generell dem Führen zwischenmenschlicher Beziehungen vereinbar sei, die allesamt ihrerseits für das Zusammenleben unerlässlich seien.
Der Staat habe somit nur getan, was aus seiner Sicht zum Schutz des Funktionierens der demokratischen Gesellschaft nötig sei: "It was a matter of protecting a condition of interaction between individuals which, for the State, was essential to ensure the functioning of a democratic society. The question whether the full-face veil was to be accepted in the Belgian public sphere was thus a choice of society".
EGMR: Geldstrafe verhältnismäßig
Die Richter bemerkten in ihrer Urteilsbegründung auch, dass dem Gesetz ein jahrelanger Prozess geprägt von kontroversen Debatten vorausgegangen sei. Außerdem sei auch im Europarat, dessen Mitgliedsstaaten die Konvention unterzeichnet haben, bislang kein Konsens in Bezug auf den Umgang mit religiöser Verschleierung gefunden worden.
Darüber hinaus befand die Kammer auch die Sanktionsmaßnahmen, welche von einer Geldstrafe bis zu Gefängnis reichen, für verhältnismäßig. Schließlich sei die Inhaftierung lediglich für Wiederholungstäter gedacht und würden in der Praxis vornehmlich Geldstrafen verhängt. Auch hier sei es dem nationalen Gesetzgeber unbenommen, zu bestimmen, was zum Schutz der demokratischen Gesellschaft nötig sei.
"EGMR hat Überschreitung der Befugnisse des liberalen Staates hingenommen"
Prof. Dr. Felix Ekardt von der Universität Rostock erklärte dazu gegenüber LTO: "In freiheitlichen Demokratien ist die Politik nur für Fragen der Gerechtigkeit zuständig. Was dagegen jeder unter einem guten Leben versteht, bleibt ihm selbst überlassen, weil es die Freiheit anderer nicht tangiert. Gemessen daran hat der EGMR mit seinem Urteil eine Überschreitung der Handlungsbefugnisse des liberalen Staates hingenommen".
Ob eine Mehrheit in Belgien Gesichtsschleier gerne oder weniger gerne sehe, sei unerheblich, so Ekardt. Denn "dann könnte man genauso gut auch Tätowierungen oder Nasenringe verbieten. Etwas anderes ist es, wenn es um Gesichtsschleier in Schulen, Gerichtsverfahren oder ähnlichen Kontexten geht."
Unabhängig davon, ob im vorliegenden Fall ausreichend Gründe für das Verschleierungsverbot sprachen, hätte sich der EGMR daher vertiefter mit den tangierten Rechten der Beschwerdeführerinnen auseinandersetzen müssen, findet Ekardt. Der bloße Verweis auf die nationalstaatliche Kompetenz dagegen dürfte die Bedeutung der EMRK für die Zukunft reduzieren.
Maximilian Amos, EGMR billigt Verschleierungsverbot: Der Staat entscheidet, was Diskriminierung ist . In: Legal Tribune Online, 12.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23429/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag