Nachruf auf Claus Roxin: Das humane Gesicht nicht nur der deut­schen Straf­rechts­wis­sen­schaft

Nachruf von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann und Prof. Dr. Dr. h.c. Luís Greco

21.02.2025

Claus Roxin ist verstorben. Strafrechtler kennen ihn als praeceptor mundi, deutsche Jurastudenten ihn mindestens wegen der von ihm entwickelten Tatherrschaftslehre. Für Bernd Schünemann und Luís Greco war er auch Lehrer, Kollege und Freund.

Die Strafrechtswelt trauert. Kein anderer hat wie er das moderne rechtsstaatliche Strafrecht durch so viele Ideen und Impulse geprägt und ihm ein kompromisslos liberal-rechtsstaatliches Profil gegeben, das er auch für das Strafverfahren eingefordert hat. Kein anderer hat wie er als Prüfstein und Garantie dieses Profils ein so umfassendes und zugleich elastisches System der strafrechtlichen Zurechnung entwickelt, durch das die Verhängung der Strafe in jedem Einzelfall an klare Kriterien gebunden und von richterlicher Willkür unabhängig wird. Und kein anderer hat wie er über Deutschland weit hinaus in Europa, Lateinamerika und Ostasien durch sein in viele Sprachen übersetztes Œuvre, durch sein persönliches Wirken auf seinen ganze Arenen füllenden Vortragsreisen und durch seine ebenso zahlreichen wie hervorragenden weltweiten Schüler die Strafrechtskultur auf ein Niveau gehoben, durch das der politische Missbrauch der Strafgewalt erkennbar und in einem Rechtsstaat unmöglich gemacht wird.  

Claus Roxin plädierte für ein humanes Strafrecht, das auf Vergeltung verzichtet und sich auf die Gewährleistung friedlichen Zusammenlebens, sprich: auf den Rechtsgüterschutz beschränkt. Dieses Plädoyer blieb nicht lediglich Theorie, sondern hat über die zahlreichen Alternativentwürfe, an denen er maßgeblich beteiligt war, vor allem durch den Alternativentwurf eines Strafgesetzbuchs von 1966, die gesetzgeberische Tätigkeit mitgestaltet. Sein fundamentales Konzept strahlte auf die Strafrechtsdogmatik aus. Bereits die Verknüpfung von abstrakten Prinzipien und konkreter Dogmatik, von "Kriminalpolitik und Strafrechtssystem", was uns heute selbstverständlich erscheint, war ein zentraler Roxin'scher Gedanke.

Roxins bekanntestes Werk: Mehr als 2.000 Seiten zum Strafrecht AT

Unübersehbar ist die Fülle der von ihm in die Strafrechtsdogmatik eingeführten und heute allgemein verwendeten Figuren: auf der Ebene des Unrechts die Lehre von der objektiven Zurechnung, unerlaubte Gefahrschaffung und Risikoerhöhung, in der Beteiligungslehre die Tatherrschaftsdoktrin, die mittelbare Täterschaft durch organisatorische Machtapparate und die Kategorie der Pflichtdelikte, auf der Ebene der Schuld eine umfassende Revision der Schuldausschließungsgründe, fehlgeschlagener Versuch und Verbrechervernunft – alle diese uns heute so geläufigen Kategorien gehen auf seine Kreativität oder auf sein Engagement zurück. Keine Frage war ihm zu groß oder zu klein; alles gehörte für ihn zusammen und war nur zusammen zu denken und zu erschließen.  

Diese großartigen Leistungen überstrahlte nur noch die einzigartige Persönlichkeit von Claus Roxin: Sein genialer Einfallsreichtum führte erst zusammen mit penibler Sorgfalt bei der Verwertung anderer, von ihm niemals ungerecht behandelter Konzepte und mit lebenslangem Fleiß zu dem gigantischen Œuvre mit dem Höhepunkt des mehr als 2.000 Seiten umfassenden Lehrbuches zum Allgemeinen Teil (AT) des Strafrechts. Keinen Zoll dahinter steht sein akademisches Wirken im Hörsaal, das ungezählte Generationen von Studenten nicht nur zu einem tiefen Verständnis auch der kompliziertesten dogmatischen Figuren ertüchtigt und zu eigenständigem Denken ermutigt und befähigt, sondern durch seine intellektuelle und rhetorische Brillanz geradezu verzaubert hat.  

Sein gütiges Lächeln, das ebenso selbstbewusste wie aufgeschlossene Bescheidenheit ausstrahlte, wird all denjenigen in unauslöschlicher, besonnter Erinnerung bleiben, die ihn als Kollegen, Lehrer oder Freund erleben durften. Seine Gedanken sind aber nicht lediglich Erinnerung, sondern sie bleiben Realität, das Gesicht der deutschen Strafrechtswissenschaft, ihre beste Seite. Als Erbe hinterlässt er eine unnachahmliche Art, Wissenschaft zu betreiben: offen für die Praxis, offen für die Welt, von beiden deshalb begeistert aufgenommen, immer zuhörend und mit starken Argumenten abgewogen diskutierend, niemals unangenehm belehrend. Eine brillante Strafrechtswissenschaft mit menschlichem Antlitz, vor der wir uns heute voller Dankbarkeit und Trauer verbeugen.

Stellvertretend für die Schüler Claus Roxins

Bernd Schünemann und Luís Greco

Zitiervorschlag

Nachruf auf Claus Roxin: . In: Legal Tribune Online, 21.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56651 (abgerufen am: 18.03.2025 )

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