Gerichte sind verpflichtet, angefochtene Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Das gilt auch, wenn die angefochtene Verwaltungsentscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe beruht. Deren Konkretisierung durch Klassifizierungen des Statistischen Bundesamtes ist zwar möglich, die behördliche Entscheidung muss aber rundum gerichtlich überprüfbar bleiben. Das entschied das BVerfG mit einem am Donnerstag bekannt gegebenen Beschluss.
Das Beschwerde führende Unternehmen bearbeitet Altasphalte und Altbeton. Für die Anschaffung diverser Maschinen beantragte es beim Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage. Auf Anfrage teilte das Statistische Bundesamt mit, dass der Betrieb nicht dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sei, woraufhin das Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage ablehnte.
Es bezog sich dabei auf das Investitionszulagengesetz, das die Gewährung staatlicher Zuschüsse für förderungswürdig erachtete betriebliche Anschaffungen regelt. Insbesondere das verarbeitende Gewerbe wird bei der Gewährung von Investitionszulagen berücksichtigt. Mit dem Investitionszulagengesetz 2010 vom 7. Dezember 2008 wurde erstmals ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben, dass die Zuordnung eines Betriebs zu dem verarbeitenden Gewerbe nach der von dem Statistischen Bundesamt herausgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige vorzunehmen ist.
Im Rahmen der Klage der Beschwerdeführerin hatte der Bundesfinanzhof entschieden, zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des "verarbeitenden Gewerbes" seien mangels gesetzlicher Begriffsbestimmung die vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Verzeichnisse der Wirtschaftszweige heranzuziehen. Halte das Statistische Bundesamt danach die Einordnung eines Betriebs in einen bestimmten Wirtschaftszweig für zutreffend, so sei diese Zuordnung von den Finanzämtern bei der Gewährung der Investitionszulage zu übernehmen, soweit sie nicht zu einem offensichtlich falschen Ergebnis führe.
Dieses Urteil des Bundesfinanzhofs verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, soweit es die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts als grundsätzlich verbindlich erachtet und nur auf offensichtliche Fehler prüft, so die Karlsruher Richter. Diese Einschränkung schmälere den individuellen Rechtsschutz, weil die gebotene vollständige Prüfung der Verwaltungsentscheidung, hier der des Finanzamts, unterbleibe und stattdessen nur eine bloße Offensichtlichkeitskontrolle erfolge.
Damit wird nach Ansicht der Verfassungsrichter dem Statistischen Bundesamt ein partielles behördliches Letztentscheidungsrecht eingeräumt. Von Gerichten nicht oder nur eingeschränkt überprüfbare Letztentscheidungsbefugnisse über Rechte des Einzelnen dürften aber der vollziehenden Gewalt nur aufgrund eines Gesetzes eingeräumt werden. Weder im Investitionszulagengesetz noch in den Gesetzesmaterialien finden sich aber tragfähige Hinweise darauf, dass die Statistikbehörden in die Zulagenentscheidung derart einbezogen werden sollen, dass Finanzbehörden und Finanzgerichte an deren Entscheidung gebunden sein sollen, so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 31.05.2011, 1 BvR 857/07).
cla/LTO-Redaktion
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