Reaktionen zum Wiederaufnahme-Urteil des BVerfG: "Bitter für die Ange­hö­rigen von Mord­op­fern"

von Hasso Suliak

31.10.2023

Das Urteil des BVerfG zur Wiederaufnahme nach rechtskräftigem Freispruch hat geteilte Reaktionen hervorgerufen. Während die Anwaltschaft jubelt und der Bundesjustizminister sich bestätigt fühlt, reagieren Unionspolitiker enttäuscht.

So erbittert im Vorfeld über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der 2021 von Union und SPD eingeführten neuen Wiederaufnahme-Vorschrift gestritten worden war, so konträr fielen am Dienstag auch die Reaktionen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus. Der Zweite Senat unter Vorsitz von BVR'in Doris König und der für das Verfahren zuständigen Berichterstatterin BVR'in Astrid Wallrabenstein hatte § 362 Nr.5 Strafprozessordnung (StPO) gleich aus mehreren Gründen für verfassungswidrig und nichtig erklärt.

In einem knappen Statement brachte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) seine Zufriendenheit mit der Entscheidung des Karlsruher Gerichts zum Ausdruck: "Seit der Einführung der Norm gab es Zweifel an ihrer Verfassungskonformität, die ich auch geteilt habe. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlangen wir nun Klarheit und Rechtssicherheit. Das muss die Politik nun respektieren."

DAV und RAV begrüßen BVerfG-Urteil

Begrüßt wurde die Entscheidung auch seitens der Anwaltschaft. "Das Gesetz hat faktisch eine unbegrenzte Möglichkeit zur Wiederaufnahme von Mordverfahren geschaffen und Freisprüchen die Rechtskraftwirkung genommen“, erklärte Rechtsanwalt Stefan Conen vom Ausschuss Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV). Gegenüber LTO stellte der Strafverteidiger klar, dass mit der Entscheidung des BVerfG letztlich nur das bekräftigt worden sei, was eigentlich immer Konsens gewesen sei: "Dass nämlich das Grundgesetz eine eindeutige, abwägungsfeste Entscheidung zugunsten der Rechtskraft von Freisprüchen getroffen hat. Diese Wertung der Verfassung wollte das jetzt gekippte Gesetz unter Berufung auf Gefühlskategorien aufkündigen", so Conen. Es sei beruhigend, dass sich das BVerfG dem verschlossen habe. Im Rückblick bleibe es dennoch erstaunlich, wieviel Widerhall der Versuch, eine klare Wertentscheidung des Grundgesetzes zu relativieren nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft gefunden habe.

Peer Stolle, Fachanwalt für Strafrecht vom Republikanischen Anwaltverein (RAV) zeigte sich ebenfalls erfreut: "Es ist zu begrüßen, dass das BVerfG klargestellt hat, dass auch das Doppelverfolgungsverbot abwägungsfest ist. Jemand, der wegen einer Tat freigesprochen wurde, muss darauf vertrauen dürfen, dass diese Entscheidung Bestandskraft hat." Auch Arne Meyn von der Initiative "nichtzweimal", zu deren Initiatoren u.a. der ehemalige Präsident des DAV, Ulrich Schellenberg gehört, begrüßte das Karlsruher Urteil gegenüber LTO: Das BVerfG habe das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit mit klaren und entschiedenen Worten zurückgewiesen und den Grundsatz ne bis in idem als abwägungsfest gestärkt. "Das Streben nach materieller Gerechtigkeit um jeden Preis findet seine Grenze in Vertrauensschutz und Menschenwürde; ein klares Nein zu einer Aufweichung der Justizgrundrechte. Daran zeigt sich, wie schlecht die Politik beraten ist, populistisch zu handeln."

Enttäuschte CDU-Rechtspolitiker 

Ganz andere Töne waren unterdessen von denjenigen zu vernehmen, die für die vom BVerfG einkassierte Regelung verantwortlich sind. Etwa dem früheren rechtspolitischen Sprecher der Unionsfraktion Jan-Marco Luczak (CDU). Luczak, in der vergangenen Wahlperiode zuständiger Berichterstatter im Rechtsausschuss der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für das Thema, nannte das Urteil "bemerkenswert". Gegenüber LTO erläuterte er noch einmal das Motiv für die misslungene Gesetzesänderung: "Offensichtlich falsche Freisprüche schaffen keinen Rechtsfrieden. Das war unsere Überzeugung als große Koalition. Deswegen haben wir bei unverjährbaren Verbrechen wie Mord die eng begrenzte Möglichkeit geschaffen, Strafverfahren bei neuen Beweisen neu aufzurollen, um dieses exzeptionelle Unrecht zu sühnen und materielle Gerechtigkeit wiederherzustellen."

Er sei enttäuscht, dass das BVerfG diese Möglichkeit nun verworfen habe, aber die Entscheidung müsse akzeptiert werden, so Luczak. "Aus meiner Sicht gibt es gute Gründe, dem Streben nach materieller Gerechtigkeit bei exzeptionellem Unrecht wie Mord den Vorrang gegenüber der formalen Rechtskraft eines Urteils zuzubilligen." Wie zu erwarten schloss sich Luczak den Sondervoten von BVR'in Langenfeld und BVR Müller an. Diese hatten die Abwägungsfestigkeit von Art.103 Abs.3 GG bezweifelt. "Die Sondervoten der Richter Müller und Langenfeld arbeiten aus meiner Sicht zu Recht heraus, dass die Auffassung der Senatsmehrheit zu schwerwiegenden Wertungswidersprüchen führt", erklärte Luczak. Der Rechtsfrieden und das Vertrauen in rechtsstaatliche Strafverfahren könnten auch dann Schaden nehmen, wenn trotz erdrückender Beweise ein offensichtlich falscher Freispruch bestehen bleibe.

SPD verspricht: Keine Vorstöße zur GG-Änderung geplant

Ähnlich enttäuscht wie Luczak reagierte auch sein Parteifreund, der aktuelle rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Günter Krings (CDU): "Die heutige Entscheidung ist bitter für die Angehörigen von Mordopfern. Ich hätte mir gewünscht, dass das Gericht die Belange der Familien der Opfer und der Allgemeinheit stärker gewichtet hätte", so Krings. Der CDU-Politiker brachte auch noch einen ganz anderen Aspekt ins Spiel: "Es ist zu befürchten, dass die Entscheidung auch negative Auswirkungen auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen haben wird: Jetzt werden deutsche Staatsanwälte noch vorsichtiger werden, ob sie beispielsweise ein russisches Kriegsverbrechen bei uns zur Anklage bringen, wenn hier nicht alle Beweismittel aus dem Kriegsgebiet optimal verfügbar oder erreichbar sind. Viele Kriegsverbrecher werden dann voraussichtlich gar nicht vor Gericht gebracht."

Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion Johannes Fechner bemerkte in einem Statement, das BVerfG habe eine jahrzehntelange rechtspolitische Debatte entschieden. Er kündigte an, die Niederlage in Karlsruhe "selbstverständlich" zu akzeptieren und keine Vorstöße zu unternehmen, "durch eine Grundgesetzänderung unser ursprüngliches Gesetzesziel zu erreichen". Dafür gäbe es im Deutschen Bundestag auch keine Mehrheit aus den demokratischen Fraktionen, so Fechner. Zur Erläuterung, warum die SPD-Fraktion die Regelung seinerzeit forciert hatte, erklärte er: "Es erscheint uns unerträglich, dass ein Täter einer unverjährbaren Tat wie Mord, dem nach vorherigen Freispruch die Tat doch noch nachgewiesen werden kann, nicht in einem zweiten Verfahren verurteilt werden kann."

Auch Vertreter der Polizei äußerten sich am späten Nachmittag zum Urteil des BVerfG. Man nehme die Entscheidung zur Kenntnis, erklärte der stellvertretende Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Alexander Poitz auf "X". "Aus Perspektive der Angehörigen von Opfern und Ermittler:innen sei das Urteil im Ergebnis aber natürlich enttäuschend. Unser Drang nach Gerechtigkeit ist Antrieb der Ermittlungen."*

Anwälte des Beschwerdeführers erfreut 

Natürlich erfreut reagierten die Anwälte des Beschwerdeführers gegenüber LTO auf das Karlsruher Urteil. Entschiedener hätte das BVerfG die Grundrechtsverletzungen des Gesetzes nicht herausstellen können, so die Hamburger Strafverteidiger Johann Schwenn, Leon Kruse und Yves GeorgYves Georg. "Mit deutlichen Worten hat es klargemacht, dass Freigesprochene auch beim Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht mit einem neuen Verfahren überzogen werden dürfen. Das gilt nicht nur für die bisherige Fassung – auch eine Beschränkung auf neue kriminaltechnische Methoden würde die Mängel nicht heilen. Einen zweiten Versuch wird es nicht geben."

 

*Anmerkung der Redaktion: Reaktion wurde ergänzt am Tag des Erscheinens, 16.45 Uhr.

 

     

Zitiervorschlag

Reaktionen zum Wiederaufnahme-Urteil des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 31.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53030 (abgerufen am: 07.10.2024 )

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