BVerfG: Gerichte müssen Sui­zid­ge­fahr ernst nehmen

23.05.2019

Belegen Gutachten im Zwangsversteigerungsverfahren eine Suizidgefahr des Schuldners, müssen Gerichte dieser Gefahr effektiv entgegenwirken. Von den Empfehlungen des Gutachtens dürfen sie nicht einfach abweichen, so das BVerfG.

Besteht bei der Durchführung eines Zwangsversteigerungsverfahrens die Gefahr, dass sich der Schuldner das Leben nimmt, müssen Gerichte geeignete Maßnahmen, die der Suizidgefahr effektiv entgegenwirken, sorgfältig prüfen und die Vornahme dieser Maßnahmen sicherstellen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit am Donnerstag veröffentlichtem Beschluss in einem Fall einer 53-jährigen Schuldnerin entschieden, der die Gerichte Vollstreckungsschutz versagt hatten (Beschl. v. 15.05.2019, Az. 2 BvR 2425/18). 

Die alleinstehende Frau hatte im Rahmen des Zwangsversteigerungsverfahrens ihres Hausgrundstücks Vollstreckungsschutz beantragt. Der Verlust ihres Hausgrundstücks würde sie psychisch überlasten und einen Suizid sehr wahrscheinlich machen. Zum Beweis bot sie die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. 

Das Amtsgericht (AG) Bitterfeld-Wolfen hielt das aber für nicht glaubhaft. Das AG und wies ihren Vollstreckungsschutzantrag zurück und erteilte dem Meistbietenden den Zuschlag. Auf die sofortige Beschwerde der Frau stellte das Landgericht (LG) Dessau-Roßlau die Zwangsvollstreckung einstweilen ein und ordnete die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. 

LG weicht von Empfehlung des Gutachtens ab

Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass der Verlust des Hauses einen Suizid der Frau sehr wahrscheinlich mache. Die Gutachterin empfahl eine psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung der Frau, die bei entsprechenden Bemühungen der Schuldnerin innerhalb von sechs Monaten erfolgreich sein könnte. Sollten sie nach den sechs Monaten keine Fortschritte gemacht haben, empfahl sie eine stationäre Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Das LG wies die sofortige Beschwerde der Frau aber trotzdem ab. Der Gefahr der Selbsttötung könne durch die von der Sachverständigen aufgezeigte Möglichkeit der vorübergehenden Unterbringung während der Dauer des Zwangsversteigerungsverfahrens gegen den Willen der Frau begegnet werden, so das LG zur Begründung. 

Das BVerfG entschied nun aber, dass das LG mit der Entscheidung das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Frau verletzt hat. Die Gutachterin habe die unfreiwillige Unterbringung erst als zweiten Schritt empfohlen. Das LG habe aber keine Ausführungen dazu gemacht, warum die von der Gutachterin zuerst empfohlene Therapiemöglichkeit nicht in Betracht komme. Laut BVerfG habe das LG nicht ohne die Darlegung eigener Sachkunde oder der Beratung eines zweiten Sachverständigen von den Einschätzungen der Gutachterin abweichen dürfen.

Zudem habe das LG der Suizidgefahr entgegenwirkende Vorkehrungen nicht sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme nicht sichergestellt. Allein der Verweis auf die Möglichkeit der Unterbringung genügt nach Auffassung der Karlsruher Richter nicht. Vielmehr habe das Vollstreckungsgericht sicherzustellen, dass die für eine Unterbringung nach polizeirechtlichen oder betreuungsrechtlichen Vorschriften zuständigen Stellen Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen haben.

acr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BVerfG: Gerichte müssen Suizidgefahr ernst nehmen . In: Legal Tribune Online, 23.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35571/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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