In Berlin werden Abschiebungen nach Afghanistan derzeit nicht durchgesetzt. Das Rechtsschutzbedürfnis im Eilverfahren entfällt durch die restriktive Abschiebungspraxis aber nicht, wie das BVerfG nun klarstellte.
Die restriktive Berliner Praxis bei Abschiebungen nach Afghanistan führt nicht dazu, dass das Rechtsschutzbedürfnis bei Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz entfällt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit am Dienstag veröffentlichten Beschlüssen entschieden und den Verfassungsbeschwerden von drei afghanischen Asylsuchenden stattgegeben (Beschl. v. 10.06.2020, Az. 2 BvR 297/20, 2 BvR 11/20 und 2 BvR 2389/18). Klagen sie gegen den Bescheid und beantragen aufschiebende Wirkung, dürfen ihnen die Verwaltungsgerichte auch bei restriktiver Abschiebepraxis nicht einfach das Rechtsschutzbedürfnis absprechen, entschied das Karlsruher Gericht.
Die drei Asylsuchenden hatten bereits ein erfolgloses Asylverfahren in Schweden durchlaufen. Die anschließend in Deutschland gestellten Asylanträge lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) allesamt ab und drohte die Abschiebung an. Dagegen zogen die drei Afghanen vor das Verwaltungsgericht (VG) Berlin und stellten Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
In Berlin gilt die Weisung, dass nach Afghanistan nur Straftäter, sogenannte Gefährder und "Personen, die sich hartnäckig der Identitätsfeststellung verweigern", abgeschoben werden sollen. Außerdem muss jeder Abschiebung die Innenbehörde zustimmen. Das VG hielt die Anträge deshalb mangels Rechtsschutzbedürfnis für unzulässig: Nach der Weisungslage und Praxis werde die gesetzlich angeordnete Abschiebung derzeit nicht durchgesetzt. Gerichtlicher Rechtsschutz sei laut VG deshalb unnötig.
VG muss Fälle erneut prüfen
Die Verfassungsrichter sahen das anders. Ein Rechtsschutzbedürfnis ergebe sich schon daraus, dass ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ein Vollzug der Abschiebung rechtlich nicht ausgeschlossen sei. Die Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde seien nur interne Verwaltungsvorschriften, von denen im Einzelfall abgewichen und die jederzeit geändert werden könnten. Anders als das VG angenommen hatte, komme es laut BVerfG auch nicht darauf an, dass die Beschwerdeführer bei Ablehnung des Eilantrages möglicherweise eine Duldung erhalten würden.
Denn die Entscheidung über die Erteilung einer Duldung aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen stehe im Ermessen der Ausländerbehörde. "Selbst wenn dieses Ermessen aufgrund der Berliner Weisungslage in Verbindung mit einer Selbstbindung der Verwaltung auf Null reduziert sein mag, erfordert die Erteilung der Duldung jedenfalls ein weiteres Tätigwerden des Betroffenen sowie der zuständigen Ausländerbehörde in einem zusätzlichen Verwaltungsverfahren", so das BVerfG in einer Mitteilung. Das VG muss die Fälle nun neu prüfen.
Der Berliner Migrationsrechtler Dr. Matthias Lehnert, der zwei der drei Beschwerdeführer vertreten hat, zeigte sich erfreut über den Beschluss: "Meinen Mandaten kann nicht zugemutet werden, auf die Berliner Weisungslage zu vertrauen. Die Weisungslage ist kein außenwirksames Recht und sie kann sich ändern, ohne dass die Beschwerdeführer das erfahren. Einen effektiven Rechtsschutz gegen eine drohende Abschiebung kann es nur vom Verwaltungsgericht geben."
Deutschland hat seit Dezember 2016 bei 33 Sammelabschiebungen 907 Männer nach Afghanistan zurückgebracht, zuletzt vor Verschärfung der Corona-Pandemie am 12. März. Die Abschiebungen sind umstritten und werden von den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. So tritt die bayerische Staatsregierung seit Jahren für konsequente Abschiebungen ein. Trotz der Aussicht auf Friedensgespräche der afghanischen Regierung mit den militant-islamistischen Taliban geht der Konflikt weiter.
acr/LTO-Redaktion
mit Materialien der dpa
BVerfG zum einstweiligen Rechtsschutz: . In: Legal Tribune Online, 07.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42119 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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