Im Streit um die Beschlussfähigkeit des Bundestags in einer Nachtsitzung vor der Sommerpause hat das BVerfG einen Eilantrag der AfD abgelehnt. Der AfD drohe kein schwerer Nachteil, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertige.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat einen Antrag der AfD-Bundestagsfraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Streit um eine Beschlussfähigkeit des Bundestags abgelehnt (Beschl. v. 17.09.2019, Az. 2 BvQ 59/19). Die Fraktion wollte dem Bundespräsidenten untersagen lassen, drei vom Bundestag beschlossene Gesetze zu unterzeichnen. Der Zweite Senat begründete seine am Dienstag veröffentlichte Entscheidung damit, dass der AfD-Fraktion kein schwerer Nachteil drohe, falls ein späteres Organstreitverfahren Erfolg habe.
Die AfD hatte das BVerfG angerufen, weil ihr in einer Sitzung des Bundestags in den frühen Morgenstunden des 28. Juni das Feststellen der Beschlussunfähigkeit per Hammelsprung verweigert wurde. Während einer Diskussion über ein Gesetzespaket zum Datenschutz meldete sich um 01:27 Uhr ein Abgeordneter der AfD zu Wort. Seine Fraktion zweifle an der Beschlussfähigkeit der Versammlung. "Gemäß § 45 Absatz 2 der Geschäftsordnung bitte ich um Überprüfung", sagte der AfD-Abgeordnete Jürgen Braun. Die Vizepräsidentin des Bundestages, Claudia Roth (Die Grünen) teilte, daraufhin mit: "Also, wir haben hier oben miteinander diskutiert. Wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist". Das löste bei der AfD-Fraktion Proteste aus.
AfD sieht "verfassungsrechtlichen Notstand"
Bei einem Hammelsprung verlassen die Abgeordneten den Saal und kehren durch verschiedene Türen zurück, so dass sie exakt gezählt werden können. Wenn sich das Präsidium aber einig ist, dass Beschlussfähigkeit besteht, findet ein solcher Hammelsprung nicht statt. Der Bundestag hat 709 Mitglieder und ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte, also mindestens 355, anwesend sind.
Die AfD hatte unter anderem argumentiert, dass eine Art "verfassungsrechtlicher Notstand" entstehe, falls ihr Eilantrag abgelehnt werde, der Organstreit in der Hauptsache aber Erfolg hätte. Das BVerfG könne im Organstreitverfahren nämlich nur die Verletzung von Organrechten feststellen, nicht aber den verfassungswidrig zustande gekommenen Rechtsakt für nichtig erklären. Nach Auffassung der AfD wären dann formell verfassungswidrige, aber weiterhin fortgeltende Gesetze in der Welt. Nur durch den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung könnten die Gesetze in einem ordnungsgemäßen Verfahren durch einen beschlussfähigen Bundestag abermals verabschiedet werden. Daher dürften sie jetzt jedenfalls noch nicht ausgefertigt werden.
Die Karlsruher Richter kamen jedoch nach einer Folgenabwägung zu dem Ergebnis, dass die gegen den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Aus Sicht des Senats geht schon aus der Begründung des Antrags nicht ausreichend hervor, welche Rechtsposition die AfD-Fraktion gegen wen geltend machen wolle. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung wäre ein erheblicher Eingriff des BVerfG in die Autonomie und Zuständigkeit anderer Verfassungsorgane. Daher müsse ein strenger Maßstab angelegt werden, argumentierten die Verfassungsrichter.
Keine präventive Normenkontrolle
Das Argument des "verfassungsrechtlichen Notstands" überzeugte das BVerfG nicht. In der Sache rüge die AfD das Auseinanderfallen der möglichen Rechtsfolgen von Organstreitverfahren einerseits und Normenkontrollverfahren andererseits. Bei einer Entscheidung über einen Organstreit stelle das Gericht nur fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Rechtsfolge der abstrakten Normenkontrolle könne hingegen die Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes sein. Eine Rechtsschutzlücke folge hieraus jedoch nicht, entschied der Senat. Für eine sich vom gesetzlich gezogenen Rahmen lösende Ausdehnung der Kompetenzen des BVerfG sei kein Raum.
Dass möglicherweise zunächst formell verfassungswidrige Gesetze in Kraft bleiben, sei unabhängig davon aber auch kein schwerer Nachteil für die AfD-Fraktion. Das Grundgesetz kenne keine präventive Normenkontrolle. Der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz sei grundsätzlich nachgelagert, teilte der Senat mit.
"Diese Entscheidung nehmen wir zur Kenntnis", sagte der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, Bernd Baumann, in Berlin. Sie sei aus seiner Sicht aber nicht nachvollziehbar, da nachts bei geringer Anwesenheit im Bundestag häufig "Entscheidungen von weitreichenden Folgen" getroffen würden. In der betreffenden Nacht seien nur etwa 90 Parlamentarier im Saal gewesen, sagte Baumann. Die AfD sprach sich für eine Erhöhung der Zahl der Sitzungswochen des Bundestages aus. Dadurch könnten Sitzungen, die oftmals bis in die frühen Morgenstunden dauern, vermieden werden.
Das Bundestagspräsidium um Wolfgang Schäuble (CDU) hatte sich hinter Roths Entscheidung gestellt. Der Sitzungsvorstand habe die Vorschriften der Geschäftsordnung zur Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet. Die AfD ist im Bundestagspräsidium nicht vertreten.
acr/LTO-Redaktion
mit Materialien der dpa
BVerfG zum "Hammelsprung" im Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 24.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37789 (abgerufen am: 14.10.2024 )
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