Nach Schütteltrauma bei Kleinkind: BVerfG bestä­tigt Sor­ge­recht für Eltern

von Hasso Suliak

13.12.2024

Ein Baby erlitt ein Schütteltrauma, wohl von den Eltern verursacht. Das Sorgerecht wurde entzogen. Jetzt soll die mittlerweile Zweijährige zurück – unter Auflagen. Das reiche laut BVerfG aus, um einer Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken.

Gut vier Wochen war das Mädchen alt, als es die Eltern im November 2022 wegen gesundheitlicher Auffälligkeiten in einer Kinderklinik vorstellten. Dort diagnostizierten die Ärzte Verletzungen unter anderem der harten Hirnhaut und des Hirngewebes, als deren Ursache vor allem ein Schütteltrauma "stark im Vordergrund stehend" angenommen wurde.

In dem daraufhin eingeleiteten Sorgerechtsverfahren stellte das Familiengericht – gestützt vor allem auf das Gutachten eines rechtsmedizinischen Sachverständigen – fest, dass das Kind zwei jeweils durch einen Elternteil verursachte, potenziell lebensgefährliche Schütteltraumata erlitten hat. Wegen der daraus abgeleiteten Gefahr auch weiterer Schädigungen des Kindes im elterlichen Haushalt entzog es den Eltern vorläufig weite Teile des Sorgerechts, vor allem das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Insoweit wurde Amtspflegschaft durch das Jugendamt angeordnet.

Das Kind wurde schließlich in ein Berliner Krankenhaus überwiesen und dort noch im November 2022 am Kopf operiert. Die festgestellten Verletzungen des Kindes verheilten in der Folgezeit ohne bleibende Schäden.

OLG: Aufenthalt in Eltern-Kind-Einrichtung zwingend

Gegen den Sorgerechtsentzug gingen die Eltern gerichtlich vor – mit Erfolg: Auf ihre Beschwerde hob das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig den Beschluss des Familiengerichts auf und stellte klar, dass den Eltern das Sorgerecht wieder vollständig zustehe (Beschl. v. 7. Mai 2024, Az. 1 UF 18/24). Allerdings erteilte es ihnen die Auflage, sich gemeinsam mit dem Kind in eine Eltern-Kind-Einrichtung zu begeben und dort für eine vom Jugendamt festgelegte Zeit zu bleiben. Außerdem gab es den Eltern auf, nach dem Ende des Aufenthalts ambulante Anschlussmaßnahmen in Anspruch zu nehmen. 

Zur Begründung führte das OLG aus, es bestehe zwar die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verletzungen des Kindes von einem oder beiden Elternteilen verursacht worden seien. Auch könne nicht ausgeschlossen werden, dass das Kind erneut verletzt werde. Die Folgen wären aber nicht zuletzt aufgrund des mittlerweile höheren Alters des Kindes weniger gravierend. Unter Berücksichtigung des Grades der Wahrscheinlichkeit und der Schwere möglicher Verletzungsfolgen sei zur Gefahrenabwendung eine dauerhafte Fremdunterbringung des Kindes aber nicht erforderlich.

BVerfG bestätigt OLG-Beschluss mit "Bauchschmerzen"

Gegen die Entscheidung des OLG erhob der Verfahrensbeistand des Kindes in Prozessstandschaft Verfassungsbeschwerde und machte einen Schutzanspruch des Kindes aus Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2, S. 2 Grundgesetz (GG) im eigenen Namen geltend. Er wollte erreichen, dass den Eltern das Sorgerecht entzogen wird, weil dem Kind bei ihnen weiterhin Verletzungen drohten.

Mit seinem Ansinnen scheiterte der Mann allerdings nicht nur vor dem OLG, sondern nun auch vor dem BVerfG (Beschl. v. 20.11.2024, Aktenzeichen: 1 BvR 1404/24). Wie zuvor das Braunschweiger Gericht bestätigte die 2. Kammer des Ersten Senates die Rückübertragung des Sorgerechts auf die Eltern. Und auf rund 16 Seiten begründeten die Karlsruher Richter verhältnismäßig ausführlich, warum sie die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen haben. 

Der angegriffene OLG-Beschluss halte, so die Kammer, verfassungsrechtlicher Prüfung "noch" stand. Die Prognose des OLG, einer zukünftig drohenden Kindeswohlgefährdung mit den von ihm erteilten Auflagen ausreichend sicher entgegenwirken zu können, sei gemessen an dem Anspruch des Kindes auf staatlichen Schutz verfassungsrechtlich hinzunehmen. "Verfassungsrechtlich hinzunehmen" – eine Formulierung, die darauf hindeutet, dass die Kammer ihre Entscheidung nicht frei von Bauchschmerzen traf.

"Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind" maßgeblich

Zur Begründung führte das BVerfG aus, dass Kinder zwar nach Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG einen Anspruch auf Schutz hätten, wenn die Eltern ihrer Pflege- und Erziehungsverantwortung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht gerecht würden oder wenn sie ihrem Kind den erforderlichen Schutz und die notwendige Hilfe aus anderen Gründen nicht bieten könnten. 

Ob der Staat zum Schutz des Kindes allerdings eingreifen müsse und welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen seien, bestimme sich nach Art und Ausmaß der Gefahr für das Kind. "Nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit verpflichtet und berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen; vielmehr ist stets dem grundsätzlichen Vorrang der Eltern vor dem Staat Rechnung zu tragen", so das BVerfG. 

Entscheidend sei letztlich eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verletzung des Kindes: Diesbezüglich sei die Würdigung des OLG nicht zu beanstanden. Dieses hatte angenommen, künftig werde es nicht mehr zu solchen Situationen kommen, die das Schütteln ausgelöst hatten. Das Kind sei mittlerweile zwei Jahre alt und schlafe nachts durch. Darin konnte das BVerfG keinen deutlichen Wertungsfehler erkennen.

Entsprechendes gelte auch für die Prognose des OLG, wonach mögliche zukünftige körperliche Übergriffe der Eltern gegen ihr Kind voraussichtlich keine derart schwerwiegenden Folgen wie das Schütteln eines Säuglings hätten. "Es kann sich dafür in verfassungsrechtlich hinzunehmender Weise auf die Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen stützen", so die Kammer.

"Enge und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung"

Überzeugt ist das BVerfG schließlich davon, dass der gemeinsame Aufenthalt in der Eltern-Kind-Einrichtung hinreichenden Schutz vor körperlichen Misshandlungen bietet. Auch dies habe das OLG richtig gewürdigt. Es habe sich dabei auf "Erkenntnisse fachlich Beteiligter" stützen können, vor allem auf Berichte der ersten Eltern-Kind-Einrichtung, in der Eltern und Kind zwischenzeitlich gelebt hatten.

Darin sei die Zusammenarbeit mit den Eltern als durchweg positiv beschrieben worden. Es soll keine Verhaltensauffälligkeiten gegeben haben. Außerdem soll und eine enge und liebevolle Eltern-Kind-Beziehung sowie eine bedürfnisgerechte Versorgung und das Fehlen von kindeswohlgefährdenden Situationen beobachtet worden sein, so das BVerfG.

Zitiervorschlag

Nach Schütteltrauma bei Kleinkind: . In: Legal Tribune Online, 13.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56111 (abgerufen am: 20.01.2025 )

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