Die Süddeutsche Zeitung durfte im Zusammenhang mit dem Cum-Ex-Skandal wörtlich aus dem Tagebuch eines Bankers zitieren. Der Bundesgerichtshof betont das überragende öffentliche Interesse in dem Fall.
Interesse der Öffentlichkeit überwiegt: Die Süddeutsche Zeitung durfte wörtlich aus den Tagebüchern eines Miteigentümers der in den Cum-Ex-Skandal verwickelten Hamburger Warburg Bank zitieren. Die wörtliche Wiedergabe habe ein vollständiges und unverzerrtes Bild in der Berichterstattung über ein Thema ermöglicht, für das es ein überragendes Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegeben habe, urteilte der Bundesgerichtshof (BGH) am Dienstag in Karlsruhe (Urt. v. 16.05.2023, Az. VI ZR 116/22).
Der BGH hob ein Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG) in Hamburg auf, das dem Banker Christian Olearius weitgehend recht gegeben hatte. Er hatte seine Persönlichkeitsrechte durch die Veröffentlichung verletzt gesehen und die Süddeutsche Zeitung verklagt. Diese hatte im September 2020 auf ihrer Internetseite einen Bericht mit dem Titel "Notizen aus der feinen Gesellschaft" veröffentlicht - mit Zitaten aus den Tagebüchern. In dem Artikel ging es um eine mögliche Einflussnahme der Hamburger Politik auf Entscheidungen der Finanzbehörden im Zusammenhang mit millionenschweren Steuerrückforderungen nach Cum-Ex-Geschäften.
Die Tagebücher waren im März 2018 bei einer Durchsuchung der Privaträume von Olearius beschlagnahmt worden. Durch die Aufzeichnungen waren Treffen des damaligen Hamburger Bürgermeisters und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) 2016 und 2017 mit dem Banker bekanntgeworden.
Tagebuch ist kein amtliches Dokument
Das OLG hatte einen Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) analog, § 823 Abs. 2 BGB angenommen. Als verletztes Schutzgesetz führte das OLG den § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) an, der die Veröffentlichung von amtlichen Dokumenten eines Strafverfahrens unter Strafe stellt. Bei den beschlagnahmten Tagebüchern handele es sich um solche Dokumente, so das OLG.
Der BGH sah das anders. § 353d Nr. 3 StGB könne nicht als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB angesehen werden. Der BGH erläuterte, dass die Norm die abstrakte Gefährdung der von ihr geschützten Rechtsgütern genügen lasse, ohne dass es auf eine konkrete Beeinträchtigung oder Verletzung im Einzelfall ankomme. Die Norm setzte insbesondere nicht die sonst zur Feststellung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung erforderliche Einzelfallabwägung voraus. Es sei aber haftungsrechtlich nicht vertretbar, den zivilrechtlichen Rechtsgüterschutz in der Weise vorzuverlagern, dass die deliktische Einstandspflicht unabhängig von einer tatsächlichen Schutzgutbeeinträchtigung und losgelöst von einer einzelfallbezogenen Abwägung mit entgegenstehenden Rechten Dritter an die abstrakte Gefahr der Bloßstellung eines Verfahrensbetroffenen geknüpft werde, so der BGH.
Zudem seien die Tatbestandlichen Voraussetzungen des § 353d Nr. 3 StGB nicht erfüllt, entschied der BGH weiter. Die beschlagnahmten privaten Tagebuchaufzeichnungen Olearius seien keine "amtlichen Dokumente" des Strafverfahrens. Die Bestimmung erfasse nicht die Aufzeichnungen privater Urheber.
Presse als "Wachhund der Öffentlichkeit"
Auch aus §§ 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, 823 Abs. 1 BGB ergebe sich kein Unterlassungsanspruch. Zwar berühre die wortlautgetreue Wiedergabe der Tagebuchauszüge das allgemeine Persönlichkeitsrecht Olearius. Dies sei aber nicht rechtswidrig, entschied der BGH. "Demgegenüber kommt dem Grundrecht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit im Streitfall ein besonders hohes Gewicht zu." Mit der wortlautgetreuen Wiedergabe habe die Zeitung einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit in höchstem Maße berührenden Frage geleistet, die auch Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg sei, urteilte der BGH.
Den wörtlichen Zitaten komme ein besonderer Dokumentationswert zu: "Sie dienen dem Beleg und der Verstärkung der Aussage der Beklagten, es dränge sich der Verdacht auf, dass hochrangige Hamburger Politiker Einfluss auf Entscheidungen der Finanzbehörden im Zusammenhang mit Steuerrückforderungen nach Cum-Ex-Geschäften genommen hätten. Dies hat der Kläger hinzunehmen." Der Vorsitzende Richter verwies bei der Urteilsverkündung auch auf die Funktion der Presse als "Wachhund der Öffentlichkeit", deren Funktion nicht übermäßig eingeschränkt werden dürfe.
Betroffene seien bei Verstößen gegen das Persönlichkeitsrecht durch andere gesetzliche Vorschriften ausreichend abgesichert. In dem Fall seien aber weder durch Zitate private Details an die Öffentlichkeit gelangt noch sei der Kläger im Rahmen des gegen ihn laufenden Steuerverfahrens bloßgestellt worden. In dem Bericht sei es um den Verdacht der politischen Einflussnahme gegangen.
Auch das NDR-Magazin Panorama und Zeit online hatten Auszüge der Tagebücher veröffentlicht und waren verklagt worden. Die Verfahren wurden im Juni und Juli 2021 - wie zunächst im Fall der Süddeutschen Zeitung - im Sinne des Klägers entschieden. In beiden Verfahren war von den Medienhäusern Berufung eingelegt worden. Vom OLG gab es dazu aber noch keine Entscheidung.
acr/LTO-Redaktion
mit Materialien der dpa
BGH betont öffentliches Interesse im Cum-Ex-Streit: . In: Legal Tribune Online, 16.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51793 (abgerufen am: 14.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag