BGH zum Anspruch auf rechtliches Gehör: Wann ein Nach­trag im Pro­zess ver­spätet ist

23.12.2024

Wer neue Informationen erst in der Berufung vorbringt, ist nicht nachlässig, wenn er sie zuvor nicht kannte. Der BGH rügt in Leitsatzentscheidungen zwei Obergerichte, die Vorträge klagender Patientinnen zu schnell als verspätet abgetan haben.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in zwei Leitsatzentscheidungen klargestellt, wann das Recht auf rechtliches Gehör verletzt ist. 

In beiden Fällen wollen Patientinnen Schadensersatz von ihren jeweiligen Ärzten. Sie behaupten, diesen seien Fehler bei den jeweiligen Behandlungen unterlaufen. In beiden Fällen wiesen die Vorinstanzen ihre Klagen aber ab. Der Grund: Die Argumente, auf die sich die Frauen in ihren Verfahren stützen, hätten sie schon in der ersten Instanz geltend machen müssen. Nunmehr seien sie verspätet. 

Die Fälle landeten beim BGH, wo die zwei Frauen Erfolg hatten. Die Karlsruher Richter entschieden, dass die Berufungsgerichte die Vorträge der Frauen in ihren jeweiligen Verfahren nicht hätten unberücksichtigt lassen dürfen. Die Vorinstanzen haben laut BGH Argumente zu Unrecht nicht gelten lassen und dadurch das Gebot auf rechtliches Gehör verletzt.

Materiell-rechtlich lagen den Beschlüssen jeweils Ansprüche auf Schadensersatz nach misslungenen Behandlungen zugrunde.

Fall 1: Missglücktes Facelifting

Die erste Entscheidung beruht auf der Klage einer Frau, die sich im März 2019 einem Facelifting unterzogen hatte. Für die Behandlung hatte sie insgesamt 20.000 Euro gezahlt.

Das Ergebnis stellte die Frau allerdings nicht zufrieden: Ihre Mundwinkel hingen nach dem Lifting nach unten und die Proportionen ihres Gesichtes stimmten nicht mehr, trug sie vor Gericht vor. Außerdem seien nun ein deutlicher Hautüberschuss über ihrem linken Auge sowie Narben an den Schläfen sichtbar, was ebenfalls durch das Facelifting hervorgerufen worden sei. Vor dem Landgericht (LG) München I machte sie daher Schadensersatz gegen den Schönheitschirurgen geltend. Die Klage wurde jedoch abgewiesen.

Die Frau ging in Berufung und trug dort zusätzlich vor, dass bereits deswegen ein Behandlungsfehler vorliege, weil es sich bei der verwendeten Lifting-Methode um eine Neulandmethode gehandelt habe, nach der eine Korrektur nicht oder nur schwer möglich sei. Davon habe sie aber erst deutlich später von anderen Ärzten erfahren, als das LG München I sein Urteil bereits gefällt hatte. Der Arzt hätte sie über diesen Umstand auch aufklären müssen, argumentierte die Frau in der zweiten Instanz.

BGH: Patienten müssen sich kein medizinisches Fachwissen aneignen

Doch auch das Oberlandesgericht (OLG) München wies die Berufung der Patientin zurück. Dass die verwendete Methode Revisionen der Behandlung unmöglich mache, habe die Beweisaufnahme nicht bestätigt. Insofern sei auch die unterbliebene Aufklärung durch den Arzt nicht zu beanstanden. Die klagende Frau hätte laut OLG  schon den vom LG München I gehörten Sachverständigen zu diesem Umstand befragen müssen. Nunmehr sei ihr Vorbringen in der Berufung nach § 531 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) verspätet.

Der BGH sah das jedoch anders: Das OLG hätte das Vorbringen der Frau nicht zurückweisen dürfen. Die Voraussetzungen hierfür hätten "offenkundig nicht vorgelegen" (Beschl. v. 19.11.2024, Az. VI ZR 35/23).

Der BGH nämlich ist überzeugt: Die Frau habe die entsprechenden Informationen über die angewandte Facelifting-Methode erst erhalten, als das Verfahren vor dem LG München I schon abgeschlossen war. Somit könne ihr nicht angelastet werden, den Sachverständigen dazu nicht befragt und erst im Berufungsverfahren dazu vorgetragen zu haben. Die erforderliche Nachlässigkeit, die § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO voraussetzt, könne ihr daher nicht vorgeworfen werden.

Zusätzlich wies der BGH darauf hin, dass sich die klagende Frau auch nicht um frühere Kenntnis dieser Umstände hätte bemühen müssen. Denn eine Verpflichtung, unbekannte Umstände erst zu ermitteln, obliege den Parteien grundsätzlich nicht. "Der Patient ist auch nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen", so die Karlsruher Richter.

Fall 2: Wirkungslose Narkose 

Die Patientin im zweiten Fall ist eine Frau, die zum Zeitpunkt der Operation schwanger und deren errechneter Geburtstermin bereits um eine Woche überschritten war. Eine von der Klinik empfohlene Einleitung der Geburt lehnte sie zunächst ab und stimmte ihr erst zu, als das Baby elf Tage später immer noch nicht auf der Welt war.

Während der Geburt stellte sich jedoch heraus, dass das Kind per Kaiserschnitt geholt werden musste. Hierfür wurde der Frau das Betäubungsmittel per Spritze verabreicht. Als die Ärzte aber zum Kaiserschnitt ansetzten und die Frau vor Schmerzen aufschrie, stellte sich heraus, dass die Betäubung keine Wirkung zeigte. Erst als die Narkose umgestellt und über einen Beatmungsschlauch verabreicht wurde, konnte der Kaiserschnitt durchgeführt und das Kind gesund geboren werden.

Auch in diesem Fall lehnte zunächst das LG Erfurt die Klage auf Schadensersatz ab, später wies das OLG Jena die Berufung zurück. Einerseits habe ein vermeintlicher Fehler in der Dosierung der Narkose von den Ärzten nicht bemerkt werden können, so das OLG, denn die Wirkung der Narkose sei ordnungsgemäß durch einen sogenannten Kneiftest geprüft worden. Dabei wird der Patientin mit einer Pinzette in die betroffene Stelle am Bauch gekniffen, worauf die Patientin nicht reagiert habe. 

Andererseits sei der Vortrag der klagenden Frau mittlerweile verspätet, weil eine neue Rüge vorgetragen wurde. In erster Instanz habe die Frau noch beklagt, sie sei zu einer Einleitung der Geburt gedrängt worden, weil sonst die Gefahr einer Totgeburt bestehe. Auf die drohende Gefahr eines Notkaiserschnitts oder darauf, dass die Kaiserschnittrate durch die Einleitung der Geburt nicht erhöht werde, sei sie nicht hingewiesen worden.

In der Berufung habe sie dagegen geltend gemacht, sie hätte ihre Ablehnung einer Einleitung eher aufgegeben, wäre sie deutlicher darüber informiert worden, dass dadurch das Risiko eines Kaiserschnitts gerade nicht erhöht werde. Darin sah das OLG einen Widerspruch.

BGH: Gerichte dürfen sich nicht auf Wortlaut versteifen

Der BGH erteilte aber auch dieser Wertung eine Absage (Beschl. v. 12.11.2012, Az. VI ZR 361/23). 

Das OLG Jena hätte zum einen den Behandlungsfehler nicht allein wegen des ordnungsgemäß durchgeführten Kneiftests verneinen dürfen, so der BGH. Dadurch habe das Gericht erkennen lassen, das Vorbringen der Frau, eine fehlerfrei vorgenommene Betäubung hätte den Schmerz ausgeschaltet, im Kern nicht erfasst zu haben. Dazu sei das Gericht nach dem Gebot des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz aber verpflichtet. "Von einer Verletzung dieser Pflicht ist auszugehen, wenn die Begründung der Entscheidung des Gerichts nur den Schluss zulässt, dass sie auf einer allenfalls den äußeren Wortlaut, aber nicht den Sinn des Vortrags der Partei erfassenden Wahrnehmung beruht", so der BGH.

Mit anderen Worten: In diesem Fall habe das Gericht verkannt, dass die Frau zwei separate Behandlungsfehler geltend gemacht hat. Zum einen die zu niedrig dosierte Narkose und zum anderen die fehlerhafte Überprüfung deren Wirkung. Ein ordnungsgemäß durchgeführter Kneiftest sage dabei noch nichts über die Ursächlichkeit der unterstellten falschen Narkotisierung aus, so der BGH. Insofern habe das OLG den Vortrag der Frau nicht hinreichend in seiner Entscheidung berücksichtigt. 

Was die Verspätung angeht, die das OLG noch sah, stellte der BGH klar, dass es sich bereits nicht um einen neuen Vortrag handle. Die Frau habe vielmehr im Kern bereits so vor dem LG Erfurt argumentiert.

In beiden Fällen verletzten die Oberlandesgerichte damit laut BGH das Gebot auf rechtliches Gehör, indem sie die Vorträge der Frauen vorschnell als verspätet zurückgewiesen haben. Die Fälle wurden an die beiden Berufungsgerichte zurückverwiesen, die nun erneut darüber entscheiden müssen.

lmb/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BGH zum Anspruch auf rechtliches Gehör: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56179 (abgerufen am: 15.01.2025 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen