Wer vom Staat über Gebühr in Anspruch genommen wird, kann neben Entschädigungsansprüchen auch Schmerzensgeld geltend machen. Grund für die Änderung der BGH-Rechtsprechung ist die fälschliche Festnahme eines vermeintlichen Attentäters.
Nimmt der Staat im öffentlichen Interesse die Rechtsgüter von Bürgern über Gebühr in Anspruch, so können diese neben Vermögensschäden auch Schmerzensgeldansprüche geltend machen. Das entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am Montag veröffentlichten Urteil (v. 07.09.2017, Az. III ZR 71/17). Damit gab der für öffentlich-rechtliche Ersatzleistungen zuständige III. Zivilsenat die seit 1956 geltende Rechtsprechung des Gerichts auf.
Anlass dafür bot den Karlsruher Richtern ein Fall aus Hessen: Am 23. Oktober 2010 wurde dort aus einem fahrenden PKW ein Schuss auf ein Döner-Restaurant abgegeben. Im Zuge der darauf folgenden Fahndung nach dem Schützen entdeckte eine Polizeistreife auf einem Tankstellengelände das mutmaßliche Tatfahrzeug. Im Verkaufsraum der Tankstelle entdeckten sie zudem neben einem Tankstellenmitarbeiter noch einen weiteren Mann. Weil auch die grobe Personenbeschreibung der gesuchten Personen auf die beiden passte, gingen die Polizeibeamten davon aus, dass es sich bei ihnen um die Tatverdächtigen handele.
Nachdem eine weitere Streifenwagenbesatzung zur Verstärkung eingetroffen war, liefen die Polizeibeamten in den Tankstellenverkaufsraum. Da sie vermuteten, der Mann und der Mitarbeiter führten eine Schusswaffe mit sich, forderten sie zur Eigensicherung beide auf, die Hände hoch zu nehmen, brachten sie zu Boden und legten ihnen Handschellen an. Dabei erlitt der spätere Kläger eine Schulterverletzung. Es stellte sich alsbald heraus, dass er und der Mitarbeiter mit dem Schuss auf das Restaurant nichts zu tun hatten, woraufhin ihnen die Handfesseln wieder abgenommen wurden. Der Mann verlangte Ersatz des aufgrund der Verletzung erlittenen Vermögensschadens und ein Schmerzensgeld.
Bisherige Rechtsprechung: Keine Regelung, kein Schmerzensgeld
Nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH hätte der fälschlich Verfolgte keinen Anspruch auf Schmerzensgeld gehabt. Im Jahr 1956 hatte der entschieden, aus der Gesamtbetrachtung der Rechtsordnung ergebe sich, dass Ersatz für immaterielle Schäden in Fällen der Aufopferung grundsätzlich nicht geschuldet werde. Nur in ausdrücklich gesetzlich normierten Fällen gebe es einen Ersatzanspruch auch für Nichtvermögensschäden.
Für den allgemeinen Aufopferungsanspruch, der sich gewohnheitsrechtlich aus §§ 74, 75 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (EALR) vom 1. Juni 1794 entwickelt habe, gebe es keine solche Bestimmung. Die Regelungen sahen vor, dass Einzelnen, die gezwungen waren, für den Staat ihre Rechtsgüter aufzuopfern, ein Entschädigungsanspruch zustehe.
Dieser Anspruch war nicht auf umfassenden Schadensersatz gerichtet, sondern sollte vielmehr eine billige Entschädigung für die Aufopferung darstellen. Heute hat er nur noch in wenigen Bereichen praktische Bedeutung, da er vielfach spezialgesetzlich (u. a. in den Polizeigesetzen der Länder) in spezifische Entschädigungsansprüche gefasst wurde.
BGH ändert Rechtsprechung zur Aufopferung: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24445 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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