BGH: Beweislastumkehr im Bereich des Leib- und Lebensschutzes: Grobe Pflicht­ver­let­zung beim Johanniter-Haus­no­truf

11.05.2017

Was können Pflegebedürftige von einem Hausnotruf erwarten? Und wer muss was beweisen, wenn etwas schief läuft? Eine Beweislastumkehr aus dem Arzthaftungsrecht hat der BGH nun auch auf Notrufdienste übertragen.

Auf die Johanniter Unfallhilfe könnte ein erster Haftungsfall nach einem Hausnotruf zukommen. Der Bundesgerichtshof (BGH) verwies am Donnerstag eine Klage auf Schadenersatz und Schmerzensgeld zurück an das Berliner Kammergericht. Die Karlsruher Richter machten dabei deutlich, dass die Johanniter ihre Hilfeleistungspflicht in dem Fall "grob vernachlässigt" haben und eine Beweislastumkehr vergleichbar mit dem Arzthaftungsrecht eingreift (Urt. v. 11.05.2017, Az. III ZR 92/16).

Der mittlerweile verstorbene Kläger lebte allein in einer Wohnung in einem Seniorenwohnheim. Aufgrund seines gesundheitlichen Zustands schloss er mit der Johanniter Unfallhilfe einen "Dienstleistungsvertrag zur Teilnahme am Hausnotruf". Dafür wird ein Notrufgerät in der Wohnung des Senioren an eine ständig besetzte Zentrale angeschlossen. Von dieser Zentrale wird im Fall eines Notrufs unverzüglich eine angemessene Hilfeleistung vermittelt, heißt es im Vertrag. Dem Vertrag war ein Erhebungsbogen beigefügt, aus dem sich multiple Erkrankungen des Klägers und ein dadurch erhöhtes Schlaganfallrisiko ergaben.

Im April 2012 betätigte der Geschädigte den Notruf. Der den Anruf entgegennehmende Mitarbeiter hörte minutenlang lediglich ein Stöhnen. Mehrere Versuche, den Anrufer telefonisch zu erreichen, scheiterten. Die daraufhin vom Notrufdienst alarmierten Sicherheitsmitarbeiter fanden den Mann am Boden liegend, setzten ihn auf eine Couch und ließen ihn wieder alleine und ohne ärztliche Versorgung in der Wohnung zurück. Zwei Tage später wurde bei dem Mann ein nicht ganz neuer Schlaganfall festgestellt, der ihn halbseitig gelähmt und mit einer Sprachstörung zurückließ.

Rettungskräfte mit bloßer Erste-Hilfe-Ausbildung geschickt

Seine Töchter verlangen deshalb mindestens 40.000 Euro Schmerzensgeld sowie Schadenersatz. Dazu führen sie aus, dass ihr Vater den Schlaganfall am Tag des Notrufs erlitten habe und dessen gravierenden Folgen hätten verhindert werden können, wenn die Mitarbeiter des beklagten Notrufdienstes keine Sicherheitskräfte, sondern einen Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften geschickt hätte. In den Vorinstanzen blieben sie damit erfolglos.

Die Karlsruher Richter entschieden, dass die Johanniter die ihnen nach dem Hausnotrufvertrag obliegenden Schutz- und Organisationspflichten grob vernachlässigt haben und deshalb eine Beweislastumkehr zugunsten des geschädigten Vertragspartners eingreife, soweit es um die Frage geht, ob die schwerwiegenden Folgen des Schlaganfalls auch bei rechtzeitiger Hinzuziehung eines Rettungsdienstes eingetreten wären.

Aufgrund der Betätigung des Notrufs, des minutenlangen Stöhnens, der gescheiterten telefonischen Kontaktaufnahme in Zusammenhang mit dem bekannten erhöhten Schlaganfallrisikos dränge sich das Vorliegen eines akuten medizinischen Notfalls geradezu auf. In einer dermaßen dramatischen Situation stelle die Entsendung eines medizinisch nicht geschulten, lediglich in Erster Hilfe ausgebildeten Mitarbeiters eines Sicherheitsdienstes zur Abklärung der Situation keine "angemessene Hilfeleistung" im Sinne des Hausnotrufvertrags dar.

BGH: Beweislastumkehr von Behandlungsfehlern bei Ärzten auf Hausnotrufdienst übertragbar

Grundsätzlich trage zwar der Geschädigte die Beweislast für die Pflichtverletzung, die Schadensentstehung und den Ursachenzusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden. Im Arzthaftungsrecht führe allerdings ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, regelmäßig zur Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden.

Wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage gelte dies entsprechend bei grober Verletzung sonstiger Berufs- oder Organisationspflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Der Senat habe keine Bedenken, diese Beweisgrundsätze auf den vorliegenden Fall anzuwenden.

Der BGH zweifelte außerdem daran, dass die Berliner Richter objektiv an die Sache herangegangen sind. Entscheiden muss deshalb nun ein anderer Senat. Dabei wird es neben der Höhe des Schadenersatzes darum gehen, ob die Pflichtverletzung der Johanniter ursächlich war für Lähmung und Sprachstörung des Mannes.

Für die Johanniter, deren Hausnotruf bundesweit mehr als 150.000 Menschen nutzen, ist dies die erste solche Haftungsklage. Auch Verbraucherschützer haben bisher keine weiteren Beschwerden erreicht. Kommentieren wollte der Verein das Urteil am Donnerstag nicht.

Mit Materialien von dpa

mgö/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BGH: Beweislastumkehr im Bereich des Leib- und Lebensschutzes: . In: Legal Tribune Online, 11.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22897 (abgerufen am: 09.12.2024 )

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