Eine Novellierung des Baurechts soll für schnellere Plan- und Genehmigungsverfahren im Bereich des Wohnungsbaus, aber auch für eine erleichterte Ansiedlung u.a. von Supermärkten sorgen. Peter Neusüß und Reinhard Sparwasser mit einer Analyse.
Schon häufiger hat der Gesetzgeber versucht, den Wohnungsbau durch Vereinfachungen im Planungs- und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Zuletzt ist er mit diesem Versuch vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) gescheitert: Das hielt die Regelung des § 13b Baugesetzbuch (BauGB), wonach Erleichterungen für Bebauungspläne im Innenbereich einer Gemeinde auch für den Außenbereich geschaffen werden sollten, für europarechtswidrig.
Jetzt versucht er es aufs Neue, allerdings geht ein Herzstück der aktuellen Baurechtsnovelle gewissermaßen den entgegengesetzten Weg: Wohnungsbauvorhaben sollen durch fast grenzenlose Befreiungen von Bebauungsplänen, Erleichterungen im unbeplanten Innenbereich und gar durch Ermöglichen von Abweichungen von sämtlichen Regeln des BauGB samt darauf beruhender Satzungen, auch im Außenbereich, ganz ohne Planungsverfahren genehmigt werden können. Eine Änderung von § 11 Abs. 3 Baunutzungsverordnung (BauNVO) soll zudem die Großflächigkeitsgrenze für Supermärkte und Drogeriemärkte, die der verbrauchernahen Versorgung dienen, in Form einer Zulässigkeitsvermutung aufheben.
Befreiungen von Bebauungsplänen
Bereits heute kann nach § 31 Abs. 3 BauGB unter erleichterten Voraussetzungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit und damit auf eine Bebauungsplanänderung verzichtet werden, wenn die betreffende Gemeinde als Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt ausgewiesen ist, die Gemeinde zustimmt und es sich nur um einen Einzelfall handelt.
Ein Einzelfall liegt nach der Rechtsprechung aber nur vor, wenn es sich bei dem Vorhaben um einen atypischen Sonderfall handelt. Aufstockungen und Hinterlandbebauungen sind aber regelmäßig auf vielen Grundstücken in einem Bebauungsplan möglich. Die erhoffte Erleichterung ging damit in vielen Fällen ins Leere.
Der Entwurf der Bundesregierung sieht nun durch eine Änderung des § 31 Abs. 3 BauGB § 31 Abs. BauGB-E zwei Erweiterungen vor: So soll die bestehende Regelung künftig allgemein gelten. Und auf das Erfordernis des Einzelfalls soll verzichtet werden können, wenn eine Befreiung voraussichtlich auch in vergleichbaren Fällen erteilt werden soll. Die Befreiung ist dann bekannt zu geben.
Was sind "vergleichbare Fälle"?
Will die Baurechtsbehörde mit Zustimmung der Gemeinde beispielsweise eine Aufstockung über die festgesetzte maximale Höhe hinauszulassen, so darf sie dies nur, wenn eine solche Aufstockung in Zukunft auch "in vergleichbaren Fällen" zulassen werden soll. Damit wird der Bebauungsplan faktisch geändert.
Anders als bei einer expliziten Bebauungsplanänderung, die auch auf ein Grundstück begrenzt werden kann ("Briefmarkenbebauungsplan"), bleibt jedoch unklar, welche Fälle künftig "vergleichbar" sind: Nur Vorhaben in der Nachbarschaft? Oder das Gebiet mit gleicher Festsetzung z.B. der Höhe? Oder das gesamte Plangebiet
Es ist auch nicht einleuchtend, warum eine Gemeinde den Bebauungsplan für ein einzelnes Vorhaben ändern könnte, bei einer Befreiung aber gleich die gesamte Umgebung gleichsam "mitplanen" muss. Ob das so Gesetz wird, bleibt abzuwarten. Eine Streichung, jedenfalls aber eine Klarstellung durch den Gesetzgeber wäre angebracht.
Erneut Verstoß gegen EU-Recht?
Im Übrigen liefe eine derart erleichterte Bebauungsplanänderung Gefahr, erneut vom BVerwG wegen Europarechtswidrigkeit kassiert zu werden. Denn warum soll europarechtlich eine faktische Bebauungsplanänderung anders zu beurteilen sein als eine Änderung des Bebauungsplans in dem dafür vorgesehenen Verfahren? Auch deshalb sollte der Gesetzgeber den Entwurf vom Vergleichbarkeitserforderns befreien.
Weiter wird sich die Frage stellen, in welchen Fällen eine Umweltverträglichkeitsprüfung europarechtlich erforderlich ist. Denn damit würden einer Befreiung öffentliche Belange i.S.d. § 31 Abs. 3 BauGB entgegenstehen, wie die Gesetzesbegründung zurecht hervorhebt. Jedenfalls bei sehr großen Bebauungsplänen oder sensiblen Flächen wird daher das Instrument an seine Grenzen stoßen.
In der Praxis dürfte die geplante Erleichterung tatsächlich beschleunigend wirken. Allerdings mit der Gefahr eines Wildwuchses. Denn mit der Neuregelung könnte abseits von Industrie- und Gewerbegebieten grundsätzlich jegliche Wohnbebauung zugelassen werden. Die steuernde Wirkung der Bebauungspläne ginge so verloren. Die Gemeinden sollten daher für den Fall, dass der Entwurf so Gesetz wird, die Zustimmung nur zurückhaltend erteilen und ggf. den Bebauungsplan zumindest im Nachgang ändern.
Befreiungen im unbeplanten Innenbereich
Ähnliche Erleichterungen sieht das Gesetz auch für den unbeplanten Innenbereich nach § 34 Abs. 3a BauGB-E vor. Auch hier könnten künftig mit Zustimmung der Gemeinde die Errichtung von Wohngebäuden (über den Einzelfall hinaus) zugelassen werden, auch wenn sich diese nach dem Maß (z. B. Höhe, überbaubare Grundstücksfläche) in die Umgebung nicht einfügen. Anders als bei § 31 Abs. 3 BauGB ist auch nicht normiert, dass sich die Gemeinde Gedanken über die Zulässigkeit der Bebauung auf Nachbargrundstücken machen muss.
Die Konsequenz: Das neu zugelassene z. B. höhere Vorhaben würde zum neuen Vorbild für die Bebauung in der Umgebung. In der Zukunft wären daher auch ohne erneute Befreiung in der Umgebung entsprechend hohe Vorhaben zulässig. Dies sollte die Gemeinde bei ihrer Zulassungsentscheidung berücksichtigen. Rechtliche Grenze ist insofern, dass die Aufstellung eines Bebauungsplans nicht erforderlich sein darf. Hier wird wohl erst die Rechtsprechung zeigen, ob es sich eher um eine theoretische Grenze handelt oder bereits bei einer Vielzahl von der Vorbildwirkung betroffener Grundstücke eine Befreiung nicht erteilt werden kann.
Insgesamt scheint die Regelung aber geeignet, die Umsetzung von Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich zu beschleunigen.
"Bau-Turbo" in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt
Anders als die beiden genannten Änderungen gilt der eigentliche "Bau-Turbo" nach § 246e BauGB-E nur in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt:
Wiederum mit Zustimmung der Gemeinde soll für Geschosswohnungsbau ab sechs Wohneinheiten gleich von sämtlichen Vorschriften des Gesetzes und untergesetzlicher Regelungen (z. B. Bebauungsplänen oder Sanierungssatzungen) abgewichen werden können. Dies soll auch im Außenbereich gelten, solange ein Zusammenhang mit dem Innenbereich besteht. Eine etwa erforderliche Umweltprüfung soll in das Genehmigungsverfahren integriert werden. Damit verlieren nicht nur Bebauungspläne, sondern gleich das gesamte Baugesetzbuch ihre steuernde Wirkung.
Weiterhin muss das Vorhaben aber mit öffentlichen Belangen vereinbar sein, Fachrecht bleibt zu beachten. Das also, was ein Bebauungsplanverfahren derzeit verzögert, wie z.B. Artenschutz- oder Lärmgutachten, soll fortan im Genehmigungs- statt im Planungsverfahren geprüft werden. Jedoch: Das Baugenehmigungsverfahren ist dafür kaum geeignet, wie schon ein Blick in die Genehmigungsfristen der Bauordnungen von häufig nur zwei oder drei Monaten zeigt. In der Praxis wird ein Hauptvorteil einer Abweichung nach § 246e BauGB-E darin bestehen, dass nur ein – gegenüber einem Planungsverfahren – eingeschränkter Kreis klagebefugt ist und daher voraussichtlich mehr Rechtsrisiken eingegangen werden. Die Umweltvereinigungen könnten aber auch gegen solche Baugenehmigungen vorgehen.
Tritt die Änderung in Kraft, werden die erforderlichen Prüfungen von den Gemeinden auf die Baurechtsbehörden verlagert. Dass damit viele Baugenehmigungen überhaupt oder schneller erteilt werden, bleibt – zumal für den Außenbereich – unwahrscheinlich; am ehesten noch wird der erhoffte Bau-Turbo "zünden", wenn die planende Gemeinde auch über die Baurechtszuständigkeit verfügt.
Discounter profitieren, Tante-Emma-Läden bleiben auf der Strecke
Die bisherige Großflächigkeitsgrenze bei 800 m² Verkaufsfläche für Lebensmittelbetriebe und Drogeriemärkte soll geöffnet werden, indem § 11 Abs. 3 BauNVO um eine Vermutungsregel ergänzt wird: Die zur Sondergebietspflichtigkeit führende Auswirkungsvermutung des § 11 Abs. 3 S. 3 BauNVO gilt nicht, wenn der Betrieb der Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs dient – nicht unbedingt dafür nötig ist.
Ansiedlungen und Erweiterungen werden damit für die großen einschlägig tätigen Einzelhandelsketten deutlich erleichtert. Das beschleunigt die Konzentrationsprozesse in einem ohnehin von Kannibalisierung bestimmten Markt. Die Nahversorgung insgesamt wird damit für starke Betriebe und mobile Kunden komfortabler. Allerdings: Viele von denen, die die Aufstockung nicht mitmachen können oder wollen, werden wohl auf der Strecke bleiben. Der Weg zum Tante-Emma-Laden würde weiter. In städtischen Gebieten wird Einkaufen komfortabler, auf dem Land noch schwerer. Bleibt zu hoffen, dass die Koalition hier noch nachjustiert oder der Bundesrat rettend eingreift.
Überhaupt gilt für den Einzelhandel das, was vielfach aus der Novelle resultiert: Ein bisschen Beschleunigung, ein bisschen Entbürokratisierung. Aber es ergeben sich auch viele neue Rechts- und Tatsachenfragen, die Berater und Gutachter erforderlich machen.
Und schließlich führt das Gesetz dazu, dass so manches materielle Anliegen auf der Strecke bleibt: Die soziale Nahversorgung, das Vertrauen in bestehende Bebauungspläne, in Bestandsschutz und ein stabiles Umfeld. Aber dafür wird hoffentlich der dringendste Wohnraumbedarf nun schneller befriedigt. Alles eine schwierige Abwägung.
Die Autoren Dr. Peter Neusüß und Prof. Dr. Reinhard Sparwasser sind Partner und Fachanwälte für Verwaltungsrecht der Sozietät Sparwasser und Schmidt in Freiburg. Sie sind vielfältig, insbesondere beim VHW, als Dozenten tätig, Prof. Sparwasser ist zudem Honorarprofessor an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Beide Autoren waren als Mitglied bzw. ehemaliges Mitglied im Verwaltungsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins an den Fachgesprächen zur Vorbereitung der BauGB-Novelle beteiligt. Der Beitrag gibt ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder.
Modernisierung des Baugesetzbuches: . In: Legal Tribune Online, 22.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55682 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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