Nach Jahrzehnten der Diskussion soll die Aufzeichnung der strafprozessualen Hauptverhandlung her. Doch an dem Referentenentwurf scheiden sich die Geister: wo die einen überfällige Verbesserungen sehen, erkennen die anderen bloß Probleme.
Sie ist kein Novum, in einigen europäischen Staaten gibt es sie schon lange: Die Aufzeichnung von Hauptverhandlungen im Strafverfahren. Auch Deutschland soll nun nachziehen. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung sieht vor, dass Strafprozesse "noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher" werden sollen – durch Aufzeichnung der Hauptverhandlung in Bild und Ton.
Vergangenes Jahr stellte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) dann einen entsprechenden Referentenentwurf vor, der für geteilte Reaktionen sorgte. Während Unterstützer:innen des Entwurfs die Vorschläge nicht nur befürworteten, sondern erklärten, die Regelungen könnten sogar noch weiter gehen, hagelte es von anderer Seite harsche Kritik, die bis zum Vorwurf der Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit ging. Nur in einem sind sich alle einig: Die Aufzeichnung der Hauptverhandlung führt zu den umfassendsten Änderungen des Strafprozessrechts seit über 100 Jahren.
Wer sagt was
Thomas Fischer befindet die Aufzeichnung für geeignet, "Willkürgefahren zu mindern und Rationalisierung voranzubringen", erklärt er auf LTO. Auch Professor Dr. Carl-Friedrich Stuckenberg (Universität Bonn), Geschäftsführer des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerische Strafrechtslehrer, befürwortet die Neuerung: "Aus Sicht des Arbeitskreises Alternativ-Entwurf ist der Referentenentwurf des Justizministeriums ein überfälliger Schritt in die richtige Richtung, der grundsätzliche Zustimmung verdient, auch wenn in manchen Einzelfragen Nachbesserungsbedarf besteht."
Der besagte Alternativ-Entwurf begrüßt insbesondere auch die Aufzeichnung der Verhandlung in sowohl Ton als auch Bild, ein Punkt, der unterschiedlich bewertet wurde. So sprach sich BGH-Richter Professor Dr. Andreas Mosbacher auf LTO zwar ebenfalls grundsätzlich für den Entwurf aus, bevorzugte aber die Vornahme von ausschließlich Tonaufzeichnungen. Zu diesem Ergebnis kam im Übrigen auch die Expert:innengruppe, die bereits 2019 von Christine Lambrecht zum Thema eingesetzt wurde und auch der Deutsche Anwaltsverein zeigte sich ebenfalls erfreut über diese Entscheidung für eine duale Aufzeichnung im Referentenentwurf.
Auch die deutschen Generalstaatsanwält:innen kritisieren die Bildaufzeichnungen in ihrer Stellungnahme vehement. Personen, die in der Hauptverhandlung zu Wort kommen, würden nicht mehr frei sprechen, wenn sie wüssten, dass sie gerade gefilmt würden. Denn dass solche Aufzeichnungen nicht an die Öffentlichkeit gerieten, könne nicht garantiert werden.
Misstrauen gegenüber der Justiz?
Die Generalstaatsanwält:innen sind aber nicht nur gegen die Videoaufzeichnung der Hauptverhandlungen, auch Tonaufzeichnungen lehnen sie ab, sie stellen sich insgesamt deutlich gegen den Entwurf, der nur neue Probleme schaffe. Sie lesen aus dem Entwurf allgemein die Annahme heraus, dass die bisherige Form der Dokumentation zu "falschen Urteilen" führe und wehren sich ausdrücklich gegen diesen Vorwurf.
Professor Stuckenberg findet für diesen Vorwurf hingegen keine Bestätigung in dem Entwurf. Dieser spiegele kein Misstrauen in die Justiz wider, es werde vielmehr die Einsicht deutlich, dass "die allgemein-menschliche Unvollkommenheit von Wahrnehmung und Gedächtnis (…) mit technischen Mitteln weitaus besser kompensiert werden kann als mit handschriftlichen Aufzeichnungen".
Auch Professor Dr. Matthias Jahn, ebenfalls Mitglied des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerische Strafrechtslehrer und am Alternativ-Entwurf des Arbeitskreises beteiligt, kritisiert die Stellungnahme der Generalstaatsanwält:innen ebenfalls: "Dass die Generalstaatsanwälte diese rhetorische Schärfe in die Debatte hineintragen, ist unverständlich. Dies löst keine inhaltlichen Diskussionspunkte, sondern eröffnet Nebenschauplätze. Für die Öffentlichkeit kann so der ungute Eindruck entstehen, die Justiz kratze und beiße, sobald es um Dokumentation und Transparenz geht." Er weist außerdem darauf hin, dass auch die Justiz und ausdrücklich auch die Staatsanwaltschaften in der Expert:innengruppe des Justizministeriums waren. Er ruft daher alle Beteiligten auf: "Kompromissbereitschaft auf allen Seiten ist aus Sicht der Wissenschaft jetzt das Gebot der Stunde."
Weitere Streitpunkte: Protokoll und Revision
Beibehalten will der aktuelle Referentenentwurf das Protokoll der Hauptverhandlung, das es aktuell schon gibt. Darin wird überblicksartig der Ablauf der jeweiligen Verhandlung dargestellt, ohne dass konkrete Inhalte erfasst werden. Die Tonaufzeichnungen der Hauptverhandlungen sollen nun künftig in einem automatischen Transkript erfasst werden, dass das Protokoll aber nur ergänzen und nicht Teil dessen werden soll, so empfahl es auch schon die Expert:innengruppe. Der Alternativ-Entwurf der Strafrechtslehrer sieht darin eine verpasste Chance der Verbesserung dieses Formalprotokolls – während die Generalstaatsanwält:innen ein Transkript ohnehin ablehnen, da die Technik zur automatischen Erstellung eines solchen nicht ausreichend gut sie und damit die Gefahr einer "Beweisaufnahme in der Beweisaufnahme" berge.
Weiterer Streitpunkt ist außerdem die Auswirkung der Aufzeichnung der Hauptverhandlung auf einen möglichen Revisionsprozess – doch dazu schweigt der Referentenentwurf weitgehend. Zu diesem Umstand herrscht nun ausnahmsweise weitgehende Einigkeit: Die Abwesenheit von Regelungen hinsichtlich der Auswirkungen auf die Revision werden umfassend kritisiert, der Gesetzgeber müsse mit deutlicheren Vorgaben für die Länder aufwarten.
Praktische Umsetzung wird noch dauern
Geplant ist, dass die Länder erst die Einführung der elektronischen Akte abschließen – ein Prozess, der in vielen Regionen Deutschlands nach wie vor nicht beendet ist und der auch nach Vorgabe des Justizministeriums noch bis 1. Januar 2026 Zeit hat. Erst danach soll mit der technischen Umsetzung der Aufzeichnungsmöglichkeiten begonnen werden, zunächst auch nur in Pilotprojekten. Es bleibt also abzuwarten, wann die Technik in den rund 600 Gerichtsälen dann tatsächlich überall steht. Anvisiert ist das Jahr 2030.
Außerdem soll die Speicherung der Daten in justizeigenen IT-Strukturen erfolgen. Dass in Deutschland auch hinsichtlich solcher IT-Strukturen Nachholbedarf besteht, hat sich in der Vergangenheit bereits gezeigt. Auch der Umfang der zu speichernden Daten ist nicht zu unterschätzen und bedarf der Aufstockung der aktuellen Kapazitäten, wie der Bericht der Expert:innengruppe aufzeigt. Insgesamt sei mit einem deutlichen zusätzlichen Kosten- und Personalaufwand zu rechnen.
Aufzeichnung der Hauptverhandlung im Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 06.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50992 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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