Nach dem RAV hat nun auch der DAV den von der Bundesregierung mitgetragenen und von ihr als "historisch" gewürdigten Asylkompromiss der EU-Innminister heftig kritisiert. Deutschlands Zustimmung sei "beschämend".
Dass Nichtregierungsorganisationen wie Pro Asyl oder der als eher links geltende Republikanische Anwaltverein (RAV) den vergangene Woche auf Ebene der EU-Innenminister:innen gefundenen Kompromiss zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) verurteilen würden, war absehbar.
Zum Start des Deutschen Anwaltstages (DAT) am Montag hat nun aber auch der mitgliederstarke Deutsche Anwaltverein (DAV) das Ja-Wort der Bundesregierung zur geplanten europäischen Asylrechtsreform scharf kritisiert. Rechtsanwältin Maria Kalin, Europabeauftragte des Ausschusses Migrationsrecht des DAV, bezeichnete gegenüber LTO das Ergebnis als "bitteren Ausgang für die Menschenrechte". Bisherige Leitmotive bei Grenzverfahren und der Inhaftierung von Schutzsuchenden seien "aus den Augen, aus dem Sinn" geraten. Mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Einzelfallprüfung im Asylverfahren habe das Ergebnis "nichts mehr zu tun", so Kalin.
Die DAV-Anwältin zeigte sich besorgt, dass Asylsuchenden künftig überhaupt noch angemessene rechtstaatliche Verfahren zur Verfügung stehen werden: "Angesichts der kurzen Dauer und pauschalen Anwendung der Grenzverfahren bestehen erhebliche Zweifel daran, dass ein adäquater Zugang zum Recht gewährleistet wird. In Verbindung mit der Fiktion der Nicht-Einreise wird es zu massenhaften Inhaftierungen an den Außengrenzen kommen – wodurch Zustände wie auf den griechischen Inseln zementiert oder gar verschlimmert werden dürften." Nicht einmal Kinder und ihre Familien würden davon ausgenommen, kritisierte Kalin.
Auf das zustimmende Votum der Bundesregierung in Luxemburg reagierte die Asylrechtlerin des DAV maßlos enttäuscht: "Sie hat ihre Versprechen aus dem Koalitionsvertrag gebrochen: Inhaltliche Prüfung von Asylanträgen und 'bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren' – diese Lösung ist nun das Gegenteil davon." Dass dieser Vorschlag als Erfolg verkauft werde, sei "beschämend", so Kalin.
Kritiker hoffen auf das EU-Parlament
SPD-Innenministerin Faeser hatte die Einigung im positiven Sinne als "historisch" bezeichnet. Ein "Weiter-so" hätte laut ihr zur Folge gehabt, dass Geflüchtete aufgrund der Überforderung der südeuropäischen Staaten an den Grenzen anderer, nicht aufnahmebereiter EU-Staaten festgehalten werden. Sie hatte daher schon im Vorfeld des Ministertreffens davor gewarnt, ein Scheitern des Reformvorhabens führe zu mehr "nationalstaatlicher Abschottung". Ähnlich verteidigten auch die grünen Kabinettsmitglieder Anna-Lena Baerbock und Robert Habeck den Kompromiss. In der ARD-Sendung "Anne Will" sagte Grünen-Chef Omid Nouripour am Sonntag, die Einigung sei zwar kein historischer Erfolg. Dafür bewertete er aber "die neue Solidarität" mit Asylsuchenden innerhalb der EU als "Schritt nach vorne". "Wenn Polen jetzt nicht aufnimmt, müssen sie zahlen", so Nouripour.
Unterdessen ruhen die Hoffnungen der Kritiker des Regierungs-Kompromisses nunmehr auf den anstehenden Trilog-Verhandlungen mit dem EU-Parlament. In diesem Rahmen verhandeln Vertreter:innen von EU-Staaten, Europaparlament und EU-Kommission miteinander über die Gesetzgebung. SPD-Chefin Saskia Esken verwies in der Anne Will-Sendung darauf, dass es sich bei der Position der EU-Innenminister bisher lediglich um Eckpunkte handele. Auch Faeser hofft bei den weiteren Verhandlungen über die EU-Asylreform auf das Parlament. Deutschland habe eine Protokollnotiz abgegeben, wonach Familien mit Kindern, und zwar gerade mit kleinen Kindern, von den Asyl-Vorprüfungen an den EU-Außengrenzen ausgenommen werden sollten, sagte die SPD-Politikerin am Donnerstagabend in Luxemburg. "Ich setze sehr aufs Europäische Parlament im Trilog, dass es auch durchgesetzt wird."
Verhandlungsstart noch diese Woche?
Am 23. September 2020 hatte die Europäische Kommission einen neuen Aufschlag für das GEAS vorgestellt, den sogenannten New Pact on Migration and Asylum. Zuvor waren die Reformvorschläge 2016 wegen der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten gescheitert. Nicht ausgeschlossen, dass die entsprechenden Verhandlungen mit dem Parlament noch in dieser Woche beginnen. Das EU-Parlament hatte seine Positionen für die Verhandlungen bereits im April abgesteckt. EU-Parlamentsvize Katarina Barley (SPD) hatte diese am Donnerstag im Interview mit dem Deutschlandfunk als "deutlich humanitärer" bezeichnet und angekündigt, man werde im europäischen Parlament einen Schritt in eine inhumane Flüchtlingspolitik "zu verhindern suchen".
Ein Sprecher des EU-Parlamentes bestätigte am Donnerstag gegenüber LTO, dass entsprechende Verhandlungen bereits diese Woche starten könnten. "Wenn sich der Rat einigt, werden die Verhandlungen sicher bald beginnen, wahrscheinlich nächste Woche in Straßburg zur Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement."
Der von der deutschen Bundesregierung mitgetragene Kompromiss für schärfere EU-Asylregeln ermöglicht erstmals Schnellverfahren an Europas Außengrenzen, um zu klären, ob Schutzsuchende einen Asylantrag stellen dürfen. Ziel ist es, Menschen aus sicher geltenden Ländern, die nur eine geringe Bleibeperspektive haben, erst gar nicht in die EU einreisen zu lassen. Dafür soll es sogenannte Asylzentren in Grenznähe geben - also streng gesicherte, haftähnliche Bereiche oder Einrichtungen. Dort würde dann im Idealfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat - wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.
RAV befürchtet chaotische Zustände
RAV-Asylrechtler Matthias Lehnert sagte gegenüber LTO, dass durch die Einführung von Grenzverfahren der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt werde: "An den Außengrenzen und durch schnelle Verfahren wird es niemals ein rechtsstaatliches Verfahren, also mit effektiver Beratung, mit Rechtsanwält:innen, mit menschenwürdigen Bedingungen geben – es wird damit jetzt eine rechtliche Grundlage für eine rechtsfreien Raum geben. Dass dann dort auch Familien mit kleinen Kindern inhaftiert werden können, ist besonders beschämend", so der Anwalt.
Sollte das Parlament nicht entsprechend korrigieren und die Einigung Gesetz werden, befürchtet Lehnert chaotische Zustände: "Die Verordnungen gelten unmittelbar und auch Deutschland kann dann gezwungen sein, Lager an der Grenze einzurichten."
Mit Material von dpa
DAV kritisiert Pläne für EU-Asylrecht: . In: Legal Tribune Online, 12.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51972 (abgerufen am: 15.10.2024 )
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