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Überraschende Urteilsgründe des AG Flensburg: Baum­be­setzer wegen Kli­ma­not­stands frei­ge­spro­chen

von Katharina Uharek

08.12.2022

Baumhäuser im Flensburger Bahnhofswald.

Umweltschützer hatten im Januar 2021 im Flensburger Bahnhofswald mehrere Bäume besetzt, um gegen die anstehende Rodung zu demonstrieren. Foto: picture alliance/dpa | Benjamin Nolte

Geeignet, erforderlich und angemessen: Eine Strafrichterin am AG Flensburg sprach einen Baumbesetzer wegen Klimanotstands frei. Für diese überraschende Entscheidung liegen nun die Urteilsgründe vor.

 

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Zwar sah eine Strafrichterin den Tatbestand des Hausfriedensbruches (§ 123 StGB) durch eine Baumbesetzung auf fremdem Grund als erfüllt an, es habe jedoch an der Rechtswidrigkeit der Tat gefehlt. Die Richterin des Amtsgerichts (AG) Flensburg sah insoweit das Vorliegen eines rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) als gegeben an. Das geschützte Rechtsgut: Der Klimaschutz. Für diese Entscheidung liegen nun die Urteilsgründe vor, die der Rechtsanwalt des Freigesprochenen, Strafverteidiger Alexander Hoffmann, auf seiner Homepage veröffentlich hat (Urt. v. 06.12.22, Az. 440 Cs 107 Js 7252/22).

Dem Eigentümer eines Grundstücks in Flensburg war für die Bebauung eines Waldabschnitts eine Baugenehmigung erteilt worden. Für das geplante Intercity Hotel am Flensburger Bahnhof war die Rodung von weiten Teilen des Baumbestandes vorgesehen. Gegen die Baugenehmigung und die damit verbundene Entwidmung des Waldes wurde von Umwelt- und Klimaschützern eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Schleswig erhoben, über die noch nicht entschieden ist.

Zusätzlich hielten Klimaschützer wiederholt Demonstrationen und Mahnwachen ab, um sich für den Erhalt des Waldes einzusetzen. Anfang Januar 2020 begaben sich erstmals ungefähr 20 Menschen auf das Privatgrundstück der Immobilienfirma und errichteten in dem zugehörigen Waldabschnitt mehrere Baumhäuser.

Aktivist verweilt drei Tage auf Baum

Eines Morgens im Februar 2021 wurden wesentliche Teile des Grundstücks vollständig mit Bauzäunen umstellt, um mit der Rodung zu beginnen. Zur Absicherung der Rodungsarbeiten war die Polizei mit über 100 Einsatzkräften vor Ort.

Unter den Anwesenden war an diesem Morgen auch ein Mann, der nach der Umzäunung des Gebiets noch drei Tage lang auf einem Baum verweilte, um die Fällung zu verhindern. Den gegen ihn wegen Hausfriedensbruchs erlassenen Strafbefehl hob eine Flensburger Richterin nun überraschender Weise auf und sprach den Angeklagten frei. Die Strafrichterin sah insoweit das Vorliegen eines rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) als gegeben an.

Klimaschutz als anderes Rechtsgut

Die Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, habe ergeben, dass vorliegend das geschützte Interesse des Klimaschutzes das beeinträchtigte Rechtsgut wesentlich überwiege. Beim Klimaschutz handle es sich um ein anderes Rechtsgut i.S.d. § 34 StGB. Der Rechtsbegriff des anderen Rechtsguts müsse im Lichte und unter Berücksichtigung einer effektiven Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Klimaschutzverpflichtung gemäß Art. 20a GG ausgelegt werden, der Staatszielbestimmung für Tier-, Klima- und Umweltschutz.  

Die Richterin verwies dazu auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.03.2021 (Az. 1 BvR 2656/18, u.A.), in der die Karlsruher Richter klarstellten, dass die Politik beim Klimaschutz verpflichtet sei, die Freiheitsrechte künftiger Generationen zu achten und zu schützen. Sie verpflichteten den Gesetzgeber, die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 näher zu regeln. Daraus könne laut Urteil des AG darauf geschlossen werden, dass der Klimaschutz über Art. 20a GG hinaus auch individualverfassungsrechtlich in den Grundrechten des Grundgesetzes eine Basis finde und damit unter anderem über die intertemporale Freiheitssicherung der Grundrechte ebenfalls zu den durch § 34 StGB geschützten Individualrechtsgütern gehöre.

Gegenwärtige Gefahr der globalen Erwärmung

Für das Rechtsgut des Klimaschutzes hätte auch eine gegenwärtige Gefahr bestanden, so die Richterin. Die globale Erderwärmung und die negativen Folgen wie Hitzewellen, Überschwemmungen und Wirbelstürme, seien wissenschaftlich in hinreichender Weise belegt. Für die Auffassung des Gerichts spielten außerdem die als insgesamt unzureichend wahrnehmbaren Klimaschutzmaßnahmen ein Rolle, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vielfach irreversiblen Schäden führen würde.

Eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Rodung des konkreten Flensburger Baumbestandes unter Berücksichtigung des Umfangs der Rodung und der Größe der Waldfläche erfolgte im Urteil nicht. Vielmehr sei eine gegenwärtige Gefahr nach Ansicht der Richterin auch dann anzunehmen, wenn der Schadenseintritt möglicherweise nicht unmittelbar bevorstehe, aber nur noch durch sofortiges Handeln abgewendet werden könne.

Baumbesetzung erforderlich und geeignet

Das Verweilen auf dem Baum sei nach Ansicht des AG auch ein geeignetes Mittel gewesen. Geeignet sei ein Mittel schließlich bereits dann, wenn die ergriffene Maßnahme nicht gänzlich nutzlos zu Abwendung der Gefahr sei. Auf einen unmittelbaren Wirkungszusammenhang zwischen Baumbesetzung und Verhinderung des Fortschreitens des Klimawandels komme es nicht an.

"Der Angeklagte verweilte auf einem Baum, um diesen vor der Fällung zu schützen. Die Tat des Angeklagten hatte den Erhalt eines konkreten innerstädtischen Waldes zum Ziel, um auf diese Weise das Fortschreiten von Klimawandel und Erderwärmung zu verhindern sowie die Herstellung von Klimaneutralität zu fördern. Die zentrale Bedeutung von Bäumen und insbesondere von ganzen Wäldern zur Bindung des Treibhausgases CO2 und damit zur Verhinderung des Klimawandels ist wissenschaftlich erwiesen", heißt es im Urteil.

Der Klimanotstand ist nach Auffassung des Gerichts nicht als "Freibrief für Klima-Aktionismus" zu verstehen. Dennoch sei eine Rechtfertigung in diesem Fall anzunehmen, da die Besetzung des Baumes auch das mildeste Mittel darstelle. Mit vorherigen Mahnwachen, Demonstrationen und der erhobenen verwaltungsrechtlichen Klage seien andere Mittel ausreichend ausgeschöpft worden. Über diese in der Hauptsache erhobene Klage der Umweltverbände gegen die Baugenehmigung des Hotels ist bisher noch nicht entschieden worden, so die Pressesprecherin des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts (VG) gegenüber LTO. Auf einen im Jahr 2022 gestellten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ordnete das VG die aufschiebende Wirkung an. Über die hiergegen eingelegte Beschwerde sei noch nicht entschieden worden, so die Pressesprecherin. Der Baubeginn werde sich daher weiter verzögern.

Abgrenzung zur Blockade des Verkehrs

Die Richterin nahm des Weiteren im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit eine Abgrenzung zu Aktivisten vor, die Verkehrsmittel blockieren. Während die Blockaden nur eine vorübergehende und mithin kurzfristige Nichtnutzung bewirken würden, ginge es bei der Baumbesetzung um den Erhalt von Bäumen deren nachhaltiger positiver Einfluss auf die Verringerung von Treibhausgasen maßgeblich sei. Bei der Abwägung waren nach Auffassung des Gerichts insbesondere die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG sowie die Rechtsprechung des BVerfG zugrundezulegen, deren Wertigkeit die des Hausfriedensbruchs übersteige. Dies sei auch auf die Art des Grundstückes zurückzuführen. Da es sich lediglich um ein rudimentär umzäuntes Waldstück handelte und nicht etwa um Geschäfts- oder Büroräume überwiege der Klimaschutz in der gerichtlichen Wertung.

Staatsanwaltschaft antwortet mit Sprungrevision

Nach Informationen des Verteidigers des Freigesprochenen, Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, hat die Staatsanwaltschaft bereits Sprungrevision zum Oberlandesgericht (OLG) in Schleswig eingelegt, welches das Urteil nun überprüfen muss.

"Ich finde ich es wichtig, herauszustellen, dass das Urteil auf eine sehr explizite Situation in Flensburg zugeschnitten ist. Ich kann nicht erkennen, welche sachlich akzeptable Situation vorliegen sollte, die die Staatsanwaltschaft dazu bringt, nun Sprungrevision einzulegen", so Hoffmann. Dass die Staatsanwaltschaft in einem Verfahren vor dem Amtsgericht, wegen eines Strafbefehls der 15 Tagessätze vorsah, mit zwei Staatsanwälten auftaucht sei, sei absurd gewesen. Für ihn sei es, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen.

Anders sieht es die Staatsanwaltschaft. "Die Rechtsauffassung überzeugt uns nicht. Wir haben uns deshalb für das Rechtsmittel der Sprungrevision entschieden. Es handelt sich ausschließlich um die Überprüfung einer Rechtsfrage, nicht um die Überprüfung des tatsächlichen Sachverhalts.", so der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft aus Flensburg. Allein weil es sich um die erste Entscheidung zum Bahnhofswald gehandelt habe, sei die Staatsanwaltschaft mit zwei Staatsanwälten in der Verhandlung vertreten gewesen, so der Pressesprecher.

 

Artikelversion vom 12.12.2022, 11:03 Uhr.

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Überraschende Urteilsgründe des AG Flensburg: . In: Legal Tribune Online, 08.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50408 (abgerufen am: 11.11.2025 )

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