Missbrauchte ein ehemaliger Staatsanwalt schlafwandelnd seinen Sohn und war er dabei schuldfähig? Das LG Lübeck bejahte dies, doch der BGH hob die Verurteilung auf. Entscheidend war die Aussage einer Zeugin, die ebenfalls Juristin ist.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Verurteilung eines ehemaligen Staatsanwalts aufgehoben. Der Mann war Anfang 2024 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern und sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen verurteilt worden. Jedoch hielt die Beweiswürdigung des Landgerichts (LG) Lübeck vor dem BGH der sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand (Beschl. v. 15.01.2025, Az. 5 StR 434/24). Zuerst hatte der Spiegel berichtet.
Das Verfahren vor dem Landgericht hatte für Aufsehen gesorgt, LTO berichtete: Ein Achtjähriger erzählte seiner Mutter, sein Vater habe ihn sexuell missbraucht. Schließlich kommt es nach einer Selbstanzeige des Mannes, der zu diesem Zeitpunkt noch Staatsanwalt ist, sowie einem durch die Kindesmutter angestrengten Klageerzwinungsverfahren zur Anklage.
Der Mann bestritt die Vorwürfe in tatsächlicher Hinsicht nicht – Schuld soll er aber nicht tragen, denn er habe Sexsomnia. Sexsomnia ist eine Schlafstörung, bei der Betroffene im Schlaf sexuelle Handlungen vornehmen. Dabei sind sie nicht bei Bewusstsein und können sich nach dem Aufwachen oft nicht mehr an ihre Handlungen erinnern.
Nichtsdestotrotz ging das Landgericht von der vollen Schuldfähigkeit des Mannes aus und verurteilte ihn zu einer Bewährungsstrafe. "Wir gehen davon aus, dass die Tat als dysfunktionale Bewältigungsstrategie zu verstehen ist", sagte die Vorsitzende Richterin von Lukowicz laut dpa bei der Urteilsverkündung. Der Mann habe beruflich unter Druck gestanden, die Ehe sei am Ende gewesen. "Der gewaltsame Missbrauch des Sohnes gab ihm für einen Moment das Machtgefühl zurück." Es habe sich um eine spontane Tat in einer Situation besonderer Belastung gehandelt.
Maßgeblich stützte sich das Landgericht auf ein Schuldfähigkeitsgutachten, welches das Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung des Angeklagten (§ 20 Strafgesetzbuch, StGB) zur Tatzeit ausgeschlossen hatte. Entscheidend bleibt auch über das Revisionsverfahren hinaus die Frage: Ist der Mann wirklich von Sexsomnia betroffen? Jedenfalls beruhe die Überzeugung des Landgerichts, dass es kein sexsomnisches Verhalten des Angeklagten in der Vergangenheit gegeben habe, auf einer lückenhaften Beweiswürdigung, so der BGH in dem Beschluss, der LTO vorliegt.
Richterin am Oberlandesgericht als wichtige Zeugin – (k)ein Motiv zur Falschaussage?
Relevant war dafür die Aussage einer Zeugin – eine als Richterin am Oberlandesgericht tätige Rechtsprofessorin und Hochschulrektorin, die einst selbst als Staatsanwältin für Sexualstraftaten und Kinderpornographie zuständig war und mit dem Angeklagten vor über 20 Jahren eine mehrjährige Beziehung führte. Sie hatte geschildert, dass es im Rahmen dieser Beziehung ihr gegenüber mehrfach zu sexsomnischen Verhalten des Angeklagten gekommen sei. Diese Aussage wertete das Landgericht allerdings als nicht glaubhaft. Konkret meinte die Kammer, die Zeugin habe "keine erlebnisbasierten Ereignisse" geschildert, sondern sich lediglich Sexsomna-Fälle aus Lehrbüchern angelesen.
Diese Beweiswürdigung hielt der Prüfung des BGH nicht stand. Es fehle "bereits an der erforderlichen Gesamtwürdigung aller für und gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage der für die Schuldfähigkeitsbeurteilung besonders wichtigen Zeugin (..) sprechenden Umstände". Das Landgericht hätte insbesondere erörtern müssen, ob und inwieweit die Zeugin ein Motiv für eine Falschaussage hatte. Dies dränge sich schon deshalb auf, weil für die Zeugin im Falle einer Falschaussage strafrechtliche Konsequenzen und ein massiver Reputationsverlust drohen würden. Dass sie ein solches Risiko eingegangen sein soll, obwohl ihr letzter Kontakt mit dem Angeklagten über 15 Jahre zurückliegt, "hätte erörtert werden müssen", so der BGH.
Auch die Wertung der Kammer, die Zeugin habe eine "lehrbuchartige" Beschreibung von sexsomnischen Episoden getätigt, sei in dieser Form rechtsfehlerhaft. Denn wiederum hätte die Kammer dann darlegen müssen, "inwieweit bei einer erlebnisbasierten Schilderung Abweichungen vom ‘Lehrbuchfall’ zu erwarten gewesen wären".
Verteidiger erwartet Freispruch
Im Ergebnis vermag der BGH in Bezug auf den Rechtsfehler "nicht auszuschließen, dass das Landgericht ohne diesen das Vorliegen von sexsomnischen Episoden in der Vergangenheit des Angeklagten und daran anknüpfend jedenfalls die Frage der Schuldfähigkeit anders beurteilt hätte". Deshalb muss die Sache neu verhandelt und entschieden werden, wobei der BGH die Feststellungen insgesamt aufgehoben hat.
Für die neue Verhandlung trug der BGH der Kammer bzw. dem insoweit tätigen psychiatrischen Sachverständigen noch auf, in Bezug auf die mögliche Sexsomnia andere mögliche Erklärungen für die Tat, wie beispielsweise "dysfunktionales Coping" in Bezug auf den beruflichen Stress, "eingehender als bisher geschehen darzulegen".
Einer der Verteidiger des Mannes, Dr. Yves Georg (Schwenn Kruse Georg Rechtsanwälte, Hamburg), betonte gegenüber LTO, dass die Zeugin "auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs keinerlei Falschaussagemotiv" habe. Sie sei Richterin am Oberlandesgericht, Hochschulrektorin und Rechtsprofessorin sowie früher selbst im Bereich des Sexualstrafrechts als Staatsanwältin tätig gewesen. "Warum also sollte sie lügen, um eine Bestrafung ihres Ex-Freundes von vor 20 Jahren zu vereiteln, der sie obendrein mehrfach betrogen und dann in der Hochstressphase ihrer Examensvorbereitung verlassen hatte – woraufhin sie bis zu dem Vorfall keinen näheren Kontakt mehr pflegten? Unser Mandant wird daher in der neuen Hauptverhandlung freizusprechen sein", so Georg weiter.
BGH hebt Verurteilung wegen Vergewaltigung des Sohnes auf: . In: Legal Tribune Online, 26.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56873 (abgerufen am: 19.04.2025 )
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