Das Kriegsdienstverweigerungsrecht gilt nicht ausnahmslos, so der BGH. Was für Deutsche eher theoretisch klingen mag, könnte für einen Ukrainer nun harte Konsequenzen haben.
Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen steht einer Auslieferung nicht entgegen, wenn das Heimatland – hier: Ukraine – völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird und ein Kriegsdienstverweigerungsrecht deshalb nicht gewährleistet. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden (Beschl. v. 16.01.2025, Az. 4 ARs 11/24).
Der Betroffene, ein ukrainischer Staatsangehöriger, soll zur Strafverfolgung in seine Heimat ausgeliefert werden. Dort wird ihm zur Last gelegt, im Sommer 2018 einen Polizeibeamten beleidigt, bedroht und körperlich angegriffen zu haben. Im Mai 2024 wurde er daher vorläufig festgenommen. Über seinen Pflichtbeistand brachte er seine Befürchtung zum Ausdruck, dass er in der Ukraine zum Militärdienst eingezogen werden könnte und an die Front müsse, obwohl er den Dienst mit der Waffe ablehne. Weil keine reale Möglichkeit bestünde, in der Ukraine als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, sei seine Auslieferung mit Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren.
Im Asylverfahren machte der Mann gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weitere Angaben. Er sei "anti-politisch und gegen den Krieg". Ferner gab er an, in der Ukraine bereits anderthalb Jahre der Grundausbildung absolviert zu haben, habe die Ausbildung dann aber abbrechen können. Er habe gesehen, welche Anforderungen man an die Leute stelle, das sei "ganz schlimm" gewesen.
Das zuständige Oberlandesgericht (OLG) Dresden wies die Einwendungen des Mannes im August 2024 zurück und ordnete die Fortdauer der Haft an. Zugleich legte es dem BGH gemäß § 42 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) die Frage vor, ob die Auslieferung eines Verfolgten in sein Heimatland in einem solchen Fall gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstoße.
Der 4. Strafsenat entschied nun: nein.
Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrecht auch in Deutschland "prinzipiell nicht undenkbar"
Entscheidungsmaßstab bei Auslieferungen sei entsprechend der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), ob mit der Auslieferung die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze bzw. das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz (Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m Art. 1 und Art. 20 GG) verletzt würde. Dem ersuchenden Staat sei im Hinblick auf die Einhaltung der Grundsätze der Rechtshilfe in Strafsachen sowie des Völkerrechts grundlegend Vertrauen entgegenzubringen. Von der Begehung von Rechtsverletzungen, welche die zukünftige Funktionsfähigkeit des Auslieferungsverkehrs zwangsläufig beeinträchtigen würden, werde ein ersuchender Staat schon wegen dem immanenten Interesse an ebendieser Funktionsfähigkeit regelmäßig Abstand nehmen, so der BGH unter Berufung auf das BVerfG. Die Grenze hierfür seien insbesondere "systemische Defizite im Zielstaat".
Der Senat kommt sodann nach ausführlicher Prüfung zum Ergebnis: Weder dem GG noch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sei "eine uneingeschränkte Aufrechterhaltung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch im Verteidigungsfall" zu entnehmen. Deshalb sei es Deutschland entsprechend der Maßstäbe des BVerfG verwehrt, "die kriegsbedingte Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts im ersuchenden Staat als unüberwindbares Auslieferungshindernis zu betrachten", so der Senat.
Schließlich seien Grundrechtsverkürzungen im Verteidigungsfall, insbesondere auch in Bezug auf die Gewissensfreiheit, der deutschen Verfassungsordnung nicht fremd, sondern gar in ihr angelegt. In existenziellen Staatskrisen – wie einem völkerrechtswidrigen Angriff mit Waffengewalt – sei eine Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts trotz der sehr hohen Bedeutung von Art. 4 Abs. 3 GG auch in Deutschland "prinzipiell nicht undenkbar", betont der 4. Strafsenat. Folglich sei das Kriegsdienstverweigerungsrecht nicht als ein unabdingbarer Grundsatz der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung zu begreifen. Deshalb kann für den Auslieferungsverkehr nach Überzeugung des BGH nichts anderes gelten.
Daraus dürfte nun folgen, dass der Mann in die Ukraine ausgeliefert wird. Ob er dort tatsächlich zum Dienst mit der Waffe eingezogen oder gar an die Front geschickt wird, ist dann Sache der Ukraine.
jb/LTO-Redaktion
BGH zu russischem Angriffskrieg auf Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56579 (abgerufen am: 18.03.2025 )
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