Eine Frage an Thomas Fischer: Sind vor dem Gesetz alle gleich?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

21.10.2022

Der Journalist Ronen Steinke ist für sein Buch über "die neue Klassenjustiz" mit einem Preis ausgezeichnet worden. Er zeichnet darin ein düsteres Bild der Ungleichheit. Es ist populär. Aber ist es auch zutreffend? 

"Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich", heißt das im Januar 2022 erschienene Buch von Ronen Steinke, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, über "die neue Klassenjustiz". Gemeint ist die Strafjustiz der Bundesrepublik. Die Otto Brenner Stiftung der IG Metall hat Steinke dafür mit dem 1. Preis für herausragenden "kritischen Journalismus" 2022 ausgezeichnet. Der Preis ist ihm zu gönnen; sein Buch enthält wichtige Befunde. Doch zur These der Ungleichheit sind gleichwohl einige – kritische – Anmerkungen veranlasst.

Die These

Der Titel des Buchs kommt als Aussagesatz daher, welcher die Grundrechtsregel des Art. 3 S. 1 GG ins Gegenteil verkehrt. Das ist natürlich zugleich die Konfrontation des normativen Befehls ("sollen sein") mit einer behauptet unzureichenden Empirie ("sind aber nicht"). Oder, noch zugespitzter, die These: Art. 3 S. 1 verlangt vom Staat, alle Menschen gleich zu behandeln; die von Steinke untersuchte Wirklichkeit zeige aber, dass der Staat die allgemeine Aufgabe und den individuellen Anspruch nicht erfülle, jedenfalls soweit es das Gebiet der Strafverfolgung und/oder der Kriminalitätsbekämpfung im Allgemeinen angeht. 

Die Ungleichheit

Jeder weiß oder ahnt zumindest, dass das Gebot der "Gleichheit" natürlich nicht bedeutet, dass alle Menschen und ihre Verhältnisse gleich zu behandeln seien. Die Beispiele in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zeigen, was gemeint ist: Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln. Damit ist schon eine erste, ziemlich hohe Hürde vor einer Überprüfung von Steinkes These errichtet: Das Buch beschreibt in acht Kapiteln, dass und wie nach Ansicht des Autors Ungleiches ungleich behandelt wird, und manchmal Gleiches gleich, und zieht daraus immer wieder die Schlussfolgerung, dass allenthalben gravierende Ungerechtigkeit herrsche, die eben hierauf beruhe. Während der Leser sich durch den Widerwillen gegen diese redundante Argumentationsfigur kämpft, bemerkt er, dass es eigentlich wohl um etwas anderes geht, was der Autor aber weder benennt noch offenbar bemerkt: Nicht die Ungleichheit des "Gesetzes" oder ein verfassungswidrig ungleiches (Be)Handeln der Justiz sind die Grundlage von Steinkes Empörung, sondern die Ungleichheiten der Menschen, die vom Gesetz betroffen sind und der Justiz gegenüberstehen.   

Ein Beispiel: Wenn man arm, vorbestraft, arbeitslos und sozial nicht verankert ist, kommt man wesentlich leichter (öfter) in Untersuchungshaft als wenn man wohlhabend, unvorbestraft, sozial integriert ist und einen festen Arbeitsplatz hat. Das kann man ungerecht und gleichheitssatzwidrig finden, muss dann aber sagen, warum es das ist. Untersuchungshaft setzt neben dringendem Tatverdacht einen Haftgrund voraus (§ 112 StPO). Dass etwa der Haftgrund der Fluchtgefahr bei sozial entwurzelten, dem Alkohol zugeneigten 25jährigen Wiederholungstätern mit höherer Wahrscheinlichkeit vorliegt als bei 60jährigen Lehrern mit Einfamilienhaus und Familie, ist nicht wirklich überraschend. Frage also: Ist es "Klassenjustiz", dass gegen Personen der erstgenannten Gruppe öfter U-Haft angeordnet wird als gegen solche der zweiten Gruppe? Und wie soll man hier die von Steinke geforderte Gleichheit des Ungleichen herstellen? 

Die Empirie 

Entsprechendes gilt für zahlreiche der Ungerechtigkeiten, die Steinke kritisiert und der Strafjustiz vorhält: Arme Menschen begehen, sagt die Empirie, nun einmal mehr "kleine" Vermögensstraftaten als reiche, werden daher öfter von Amtsgerichten abgeurteilt als von Wirtschaftsstrafkammern, haben daher seltener Anspruch auf einen Pflichtverteidiger. "Kleine" Delikte werden öfter im Strafbefehlsverfahren erledigt als schwere Delikte. Ungebildete, sozial unbeholfene Menschen neigen eher als gebildete und selbstbewusste dazu, Bedrückungen auszuweichen, sich nicht um Rechte und Ansprüche zu kümmern. In prekären sozialen Verhältnissen aufgewachsene Menschen neigen in erhöhtem Maß zum Eingehen irrationaler Risiken, zu spontanen und undurchdachten Entscheidungen und Bedürfnisbefriedigungen, haben oft Schwierigkeiten, langfristig zu planen oder Lebensstrukturen vorausschauend zu ordnen. All das das führt zu erheblichen Unterschieden in den Wertvorstellungen, der sozialen Orientierung, dem Alltagsverhalten und im Ergebnis auch der Kriminalitätsstruktur. Es führt zu Ungleichgewichten und Nachteilen. Es ist aber nicht von vornherein "ungerecht", sondern zunächst einmal nur eine Wirklichkeit, mit welcher die Strafjustiz rechnen und umgehen muss. Die Forderung, man solle sozial eher randständige Personen konkret genauso behandeln wie Personen aus Schichten, denen Steinke und der Verfasser angehören, ist keine Anwendung, sondern eine Romantisierung des Gleichheitssatzes.  

Die Vorhaltungen, die Steinke macht, wirken teilweise auch beliebig: Das Strafbefehlsverfahren etwa wird auf Seite 106 als "Kafkas Albtraum" beschrieben, etwas weiter hinten (S. 133) ist es im Gegenteil ein Privileg für Wirtschaftsstraftäter mit "anerkanntesten" Anwälten. Das Tagessatz-System der Geldstrafe ist dem Autor mal zu streng, mal zu lasch, mal zu ungenau, mal zu kleinklariert, je nachdem, wo sich eine Ungerechtigkeit finden lässt, die angeblich oder tatsächlich aus seiner gleichmäßigen Anwendung entspringt.  

Er meint, fiktiv beispielhaft, dass es gleichheitswidrig sei, wenn ein Grundsicherungsempfänger einen Geldstrafen-Tagessatz von 15 Euro zahlen muss, eine Bundesrichterin einen von 250 Euro. Nehmen wir an, dass es sich in diesem Beispiel um 20 Tagessätze wegen Ladendiebstahls einer Flasche Wein im Wert von 10 Euro handelt, also im ersten Fall um eine Summe von 300, im zweiten Fall von 5.000 Euro, und dass der Grundsicherungsempfänger 300 Euro nicht gespart hat, die Bundesrichterin aber 5.000 Euro. Wo, wie und von wem hier gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen worden sein könnte, erklärt Steinke nicht; seine Beispielsfälle stehen, wie es in der Skandalisierungsliteratur üblich ist, ohne jede explizite Relation da. 

Die Realität 

Die Gefängnisse sind bei Steinke – skandalöserweise – Aufbewahrungsstätten von Personen aus sozialen Unter- und Randschichten. Er beschreibt sie als grausige Orte, in denen "die Schreie der auf kaltem Entzug Befindlichen" durch die Nächte hallen, die Zellen aus Gestapo-Zeiten stammen und die – zwecks Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen – als "neuer Schuldturm" dienen. Zu Entzug, Krankenlage und Medikationspraxis im Strafvollzug empfehle ich, bevor das Zerrbild aus dem Film "Midnight Express" (Alan Parker, 1978) sich festsetzt, Gespräche mit Anstaltsärzten und Fachdiensten. 

An der Ersatzfreiheitsstrafe gibt es tatsächlich Einiges zu kritisieren und zu verbessern, aber wer sie als "Schuldturm" denunziert, kann Dickens‘ "David Copperfield" nicht gelesen und verstanden haben. Und die Feststellung, dass in den Gefängnissen nicht ein empirisch-soziologischer Durchschnitt der Gesellschaft einsitzt, sondern eine Negativ-Auswahl aus deren "untersten" fünf Prozent, ist weder überraschend noch neu noch ein durchgreifendes Indiz für "neue Klassenjustiz". Um dieses Urteil zu begründen, müsste man ja – zunächst oder jedenfalls am Ende – erst darlegen, was man mit den Begriffen eigentlich genau meint. Eben dies vermeidet Steinke aber. 

Die Gleichheit

Steinke möchte, was ein ehrenwertes Anliegen ist, dass "Gleichheit vor dem Strafgesetz" herrsche und dass es keine "neue Klassenjustiz" gebe (wobei er freilich nicht mitteilt, auf welche "alte" er sich bezieht). Die zahlreichen Beispiele, über die das Buch durchweg einseitig, subjektiv, selektiv und effektorientiert berichtet, bieten aber, entgegen dem ersten Anschein, wenig Anschauungsmaterial für Ungleichheit im angeblich Gleichen. Wohlhabende Menschen begehen nun einmal ("naturgemäß") nicht sehr viele Raubüberfälle auf Tankstellen, hochgebildete Menschen nur wenige extrem leicht aufzuklärende Bagatellbetrugstaten, Antialkoholiker deutlich weniger Gewaltverbrechen als Abhängige. Wer intelligent, gebildet, sozial erfolgreich, wohlhabend ist, wird, wenn überhaupt, mit hoher Wahrscheinlichkeit Regelverstöße begehen, die nicht jedermann sogleich ins Auge springen, die nicht spontan, sondern geplant sind, deren (angebliche) Aufklärung nicht 45 Minuten, sondern 45 Monate dauern könnte. 

Umgekehrt: Nicht jeder, der vorbestraft, ungebildet, arbeitslos und/oder Mitglied einer randständigen Subkultur ist, kann als pures Opfer der fremd-"verschuldeten" Umstände und des Staats angesehen werden, für den nur irgendjemand genügend Kautionen, Geldstrafen und Lebensunterhalt bezahlen müsste, damit er die Strafjustiz nicht beschäftigt. 

Steinke empört sich darüber, dass es in der deutschen Gesellschaft, einer kapitalistisch – oder, dezenter formuliert: privatwirtschaftlich – strukturierten Konkurrenz- und Marktgesellschaft, gravierende Unterschiede der Lebensstandards und Chancen gibt. Diese Kritik ist nicht unplausibel, aber auch nicht originell. Man kann von ihr aus Rückschlüsse auf die Bildungslage der Bevölkerung ziehen, die Wohnsituation, den Heiratsmarkt, das Urlaubs-, Sport-, Hobby- und Essverhalten, auch auf die Konzeption des Zivilrechts. Man kann aber wohl nicht unmittelbar auf eine Rechts- und Justizkritik umschalten, in der Ursache und Wirkung in unklarer oder gar voluntativ umgedrehter Beziehung stehen. Selbstverständlich kann man, wenn man mag, mit Brecht das (fehlerfreie) Betreiben einer Bank als schlimmeres Verbrechen ansehen als das Ausrauben einer Bank, die Erhöhung der Dispositionszinsen als viel asozialer als den Einbruchsdiebstahl von 200 Luxusuhren. 

"Die Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient", schrieb 1912 der Kriminologe Alexandre Lacassagne. So ist es. Dass die Strafjustiz einer Gesellschaft ein Spiegel ihrer Strukturen und Wertungen ist, ist kein Zufall und steht nicht zur Disposition eines bloßen "guten Willens". In der DDR wurde der Diebstahl von "sozialistischem Eigentum" deutlich härter bestraft als der von Privateigentum. Die Diebe kamen aber trotzdem meist aus der Unterschicht der "klassenlosen" Gesellschaft. 

Was tun? 

Die vorstehend hier nur angedeuteten Kritikpunkte ändern nichts daran, dass Steinkes Buch auf zahlreiche durchaus bestehende Probleme hinweist. Es enthält aber wenig neue Erkenntnisse und bewegt sich, nach meinem Geschmack, ein wenig zu sehr in den journalistischen Formen der "sozialen" Empörung, die schon aus der Zeit der Weimarer Republik vertraut und damals gegen eine antirepublikanische, dem Ständestaat verbundene Justiz gerichtet waren. Die inzwischen abundante "Warum alles schrecklich ist"-Literatur imitiert dies, auf der "linken", emanzipatorischen und nach eigenem Verständnis von Natur aus richtigen Seite, seit Jahrzehnten, bringt aber wenig Substanzielles hervor, wenn man von dem sozialarbeiterischen Appell an mehr "Empathie" für die minder bemittelten, minder chancenreichen, minder wichtigen und minder unauffälligen Mitbürger absieht. Er ist verdienstvoll und eines Preises von der Gewerkschaft sicher würdig. Die Lage der deutschen Strafjustiz beschreibt er aber allenfalls oberflächlich und auf romantisiertem Niveau.  

Das wird in den "13 Vorschlägen, wie es besser gehen könnte", die Steinke auf den letzten 11 Seiten nachschiebt, ziemlich deutlich. Er will das Strafbefehlsverfahren abschaffen, das Schwarzfahren straffrei stellen, die wirtschaftlichen Verhältnisse jedes einzelnen Bagatelltäters, ALG-II-Empfängers und Freiberuflers (sagen wir beispielhaft: Journalisten) komplett und in extenso aufklären lassen (Frage: von wem? Wie? Zu welchen Kosten?); er fordert staatlich bezahlte Verteidiger "für alle" (gemeint: für alle knapp sieben Millionen Beschuldigten pro Jahr. Das zahlt Wer?). Für solche Forderungen ans Schicksal, "die Gesellschaft" und den Staat bekommt man selbstverständlich viel Beifall, gern auch von der IG Metall. Allerdings nur so lange, wie es nichts kostet und nicht Menschen zugutekommt, die es nach Ansicht der durchschnittlich Guten nicht verdienen: Also "denen da oben" und "denen da unten". Denn der wahrhaft Gute, Gleiche und Gerechte ist, gerade auch in Deutschland, immer exakt in der Mitte: Nieder mit dem Finanzkapital und den Sozialschmarotzern! 

Antworten, im Ergebnis: 

  1. Sind vor dem Gesetz der Bundesrepublik alle gleich? Ich habe daran wenig Zweifel. Für jedes herbeigezauberte Hoeness-, Ackermann- oder Ecclestone-Beispiel einerseits, jeden Obdachlosen und jede alleinerziehende psychisch kranke Mutter andererseits, die "ungerecht", falsch, unverständlich behandelt wurden, fallen dem praktisch Erfahrenen drei Gegenbeispiele ein. Weder das eine noch das andere ist deshalb "falsch". Falsch und verzerrend ist aber eine Fragestellung, die auf Effekte zielt, nicht auf Begründungen, auf oberflächliche Skandalisierungen statt auf ernsthaft diskutierte Konsequenzen. 
  2. Die deutsche Strafjustiz macht Fehler im Abstrakten, im Konkreten und im Subjektiven. Das ist ärgerlich, aber, mit Verlaub: geschenkt. Der Journalismus, der heute meist das Menschliche als solches darstellen soll, begeht im Durchschnitt vermutlich mindestens so viele folgenschwere Fehler pro Zeiteinheit wie "die Justiz". Dasselbe gilt für "die Medizin", "die Schule" oder "die Politik". 
  3. Die Strafjustiz leidet an strukturellen, ernsthaften Problemen, die aus ihr selbst kommen, vielfach aber auch aus irrationalen Anforderungen, welche an sie gestellt sind. Sie sind nicht so offenkundig und einfach zu erfassen und erst recht nicht zu lösen wie der jeweils neueste "skandalöse Fall". 
  4. Der Rechtssatz "Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich" ist, entgegen mancher Annahme, kein Versprechen individueller Gerechtigkeit, sondern eine Minimalgarantie gegen Willkür. 
  5. Ich kenne (und kritisiere) Fehlerquellen der Strafjustiz. Die Behauptung, dass diese strukturell und systematisch gegen Art. 3 Abs. 1 S 1 GG verstoße, halte ich aber für falsch. Tatsächlich ist es so, dass dort, wo Steinkes Buch die Lösung vermutet, die inhaltlichen Probleme erst beginnen. 

 

Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof. 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 21.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49937 (abgerufen am: 02.11.2024 )

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