Unser Staat ist schwach wie nie. Susanne Hähnchen und Joachim Lege suchen Ursachen, beginnend bei der Wende, und plädieren für ein neues Staatsverständnis, bevor sich Deutschland ganz entsolidarisiert und uns auch das Recht nicht mehr hilft.
"Wir sind das Volk!". Das ist ein berühmter Satz. Er stammt aus der Zeit, als die Menschen in der damaligen DDR auf die Straße gingen, um gegen ihre Regierung zu demonstrieren. Der Satz ist zu Recht "episch" geworden, wie die jungen Leute sagen würden. Aber er ist hoffnungslos veraltet. Wenn wir heute sagen wollten, was uns an der Regierung der real existierenden Bundesrepublik Deutschland stört, wir müssten auf die Straße gehen und sagen: Wir sind der Staat! Wir!
Die Verfasserin und der Verfasser dieses Textes sind Jura-Profs. Der eine ist in der alten BRD aufgewachsen, die andere in der DDR. Er war Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, sie ist es für Zivilrecht und Rechtsgeschichte. Man kann daher sagen: Beide wissen, was Begriffe sind und was sie anrichten können. Zum Beispiel die Begriffe "Volk" oder "Staat".
Enttäuschungen nach der Wende
Beim Begriff "Volk" lässt sich sehr schön zeigen, was er in jenem epischen Satz bedeutet und bewirkt hat. "Volk" heißt auf Altgriechisch dḗmos, daher auch die Demokratie, das bedeutet bekanntlich: Herrschaft des Volkes. Gerade weil der Staat DDR sich so nannte, also Deutsche Demokratische Republik, nahmen seine Bürger ihn am Ende beim Wort: Wir sind das Volk. Nicht die herrschende Partei, die für sich in Anspruch nahm, besser als ihre Bürger zu wissen, was für sie richtig ist. Es gab ein Lied, das heute wie eine Realsatire wirkt: "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht" – man findet es leicht auf Youtube.
In der Tat hat sich die Regierung der DDR, also die herrschende Sozialistische Einheitspartei (SED) mit ihrem Politbüro, nach diesen Protesten nicht mehr lange an der Macht bzw. Herrschaft (kratía) halten können. Die "friedliche Revolution" des wahren Volkes hatte gesiegt, es kam zum Beitritt der DDR zur alten "West"-BRD – und danach zu vielen, vielen Enttäuschungen, die bis heute fortwirken, sich vielleicht sogar stetig verstärkt haben zu dem Satz: So hatten wir, die Bürger der DDR, uns die Demokratie nun auch wieder nicht vorgestellt. Dieses Gefühl muss man sehr ernst nehmen.
Staat und Gesellschaft in der DDR: zwei Feindbilder
Um das Gefühl wirklich zu verstehen, haben wir zwei Vermutungen:
Für viele DDR-Bürger gab es einen gemeinsamen Feind: den Staat. Den DDR-Staat, der Andersdenkende verfolgte, sie teils ins Gefängnis steckte, teils am Studium hinderte, sie nicht ausreisen ließ und Republikflüchtlinge an der Grenze erschoss. Und der die Hälfte der Bevölkerung mehr oder weniger offiziell damit beauftragte, die andere Hälfte zu bespitzeln.
Die zweite Vermutung lautet, dass die DDR – genauer: die Regierung der DDR – ihren Bürgern trotzdem ein positives Selbstbild vermittelt hat, und zwar in Abgrenzung zu dem offiziellen Feindbild: dem kapitalistischen und imperialistischen "Westen".
In dieser Perspektive lautete die Grundüberzeugung: "Wir haben zwar das schlechtere System (vor allem wirtschaftlich), aber wir sind die besseren Menschen." Wir treten ein für den Frieden (beliebtes Lied: "Kleine weiße Friedenstaube"), für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und wollen generell ein System ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – anders als der "Klassenfeind". Dass die Bürger nicht wissen durften, wie es im Westen wirklich aussah, gehörte dabei zum Programm des Staates: Westfernsehen schauen, Westradio hören, waren zwar nicht offiziell verboten, aber ein Grund, um als Staatsfeind in Verdacht zu geraten.
Zwei Grundüberzeugungen also: "Wir hatten (fast) alle einen gemeinsamen Feind – den Staat." Und: "Wir hatten zwar das schlechtere System, aber wir waren (und sind?) die besseren Menschen."
Der Staat war jedenfalls eines nicht: etwas, mit dem man sich identifizieren konnte und wollte. Der Staat war ein Apparat, der seine Bürger teils unterdrückte, teils zum Mitmachen zwang – und dafür auch wieder belohnte. Und der ihnen dennoch das Gefühl moralischer Überlegenheit gab (übrigens ein sehr christliches Gefühl): Der Sozialismus sei die bessere Form von Gesellschaft.
Eine Gesellschaft, in der die Menschen solidarisch miteinander leben und sich nicht gegenseitig über den Tisch ziehen. Schade, dass unser Staat, die DDR, uns trotzdem misstraut. So sehr, dass ein ganzes Ministerium "für Staatssicherheit" (!), kurz Stasi, ihn vor uns beschützen muss.
Für die Spätgeborenen: Die Stasi organisierte vor allem das Spitzelwesen; Oscar-prämiierter Film dazu: Das Leben der Anderen, 2006.
Staat und Gesellschaft in der BRD: zwei Solidaritäten
Wie sah es demgegenüber nun im Westen aus, in der alten BRD? Auch hier kannten wir große Solidarität, und zwar auf vielen Ebenen. Die volkswirtschaftlich wichtigste war wohl die Solidarität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern: Die Lohnsteigerungen und sonstigen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen folgten der Produktivitätssteigerung – beide Seiten "konnten sie sich leisten".
Aber auch innerhalb der Unternehmen gab es häufig ein "Wir-Gefühl": Die Angestellten der Handelsbank in Lübeck, rund 600 Menschen, identifizierten sich mit ihrem Betrieb ganz ebenso wie die Arbeiter auf der Flender-Werft, ganz zu schweigen von den "Siemensianern" in Erlangen oder den Privilegierten bei VW. Und man denke, ganz äußerlich, an die betrieblichen Altersrenten, zusätzlich zur gesetzlichen Rentenversicherung: Sie waren einer von vielen Bestandteilen des "Wirtschaftswunders" und der "sozialen Marktwirtschaft".
Vor allem aber, und auch das glauben wir sagen zu dürfen: Die Menschen der alten BRD haben sich, vielleicht mehr unbewusst als bewusst, mit ihrem Staat identifiziert – auch, weil man vom "Volk" der Nazis die Nase voll hatte. Stattdessen hatte man jetzt einen Staat, in dem beispielsweise die Bundeswehr ihre Soldaten als "Staatsbürger in Uniform" präsentierte und während ihrer Wehrpflicht im Allgemeinen auch so behandelte. Es war ein Staat, der sich – von Ausnahmezuständen wie dem "Deutschen Herbst" vielleicht abgesehen – generell sehr bemühte, "zivil" zu sein. Das Wort kommt von lateinisch civis, das bedeutet Bürger, und civitas ist der Staat. Die Bürger sind der Staat. Wer denn sonst?
Ein Staat, der Probleme nicht mehr lösen kann
Vielleicht hat man es bemerkt: Wir sind zwei Jura-Profs, aber wir haben als Gegensatz zur DDR nicht sofort den "freiheitlich-demokratischen Staat des Grundgesetzes" ins Feld geführt. Das ist mittlerweile doch eher eine Beschwörungsfloskel, gar ein Totschlagargument. Zumal darunter wohl oft genau das verstanden wird, was nach Ansicht vieler Bürger nicht mehr funktioniert: der bestehende Parteienstaat mit seinen professionellen Politikern "da oben". Ein Parteienstaat, der nicht mehr in der Lage ist, Probleme zu lösen. So schwer es fällt, das zu sagen: Aufgrund der weit verbreiteten Verachtung, die den Volksvertretern entgegengebracht wird, war der deutsche Staat wohl noch nie so schwach wie heute.
Zudem ist es sehr unterschiedlich, was man für "freiheitlich" und "demokratisch" hält: die einen eine möglichst bunte Gesellschaft, die anderen freie Fahrt auf den Autobahnen. Und "Staat" ist dann das, was diese politische Überzeugung gefälligst durchsetzen und garantieren soll? Weil doch die Würde des Menschen unantastbar ist, das steht so im Grundgesetz, oder?
Wir beiden Jura-Profs wollen stattdessen einmal ganz undogmatisch und grundlegend über das Verhältnis von "Staat" und "Gesellschaft" nachdenken. Man kann sich dieses Verhältnis nämlich ganz verschieden vorstellen – und deshalb mehr oder weniger enttäuscht sein, wenn die Realität dem nicht entspricht.
Eine häufige Annahme besagt: Man muss "Staat" und "Gesellschaft" voneinander trennen, das sei geradezu die Grundbedingung von Freiheit. Der Staat als Zwangsapparat dürfe sich nur so weit in die Privatsphären der Gesellschaft einmischen, wie dies für ein geordnetes Zusammenleben nötig ist. Das war die Position des berühmten Freiburger Jura-Professors und Richters des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde. Was für ein Schmarrn, hätte wohl die Antwort des ebenso berühmten Freiburger Jura-Professors und Richters des Bundesverfassungsgerichts Konrad Hesse gelautet: "Staat" und "Gesellschaft" bilden gemeinsam etwas Drittes – ein Drittes, das beide umfasse: ein "Gemeinwesen". Und die Verfassung, das heißt das Grundgesetz, will beide miteinander in Einklang bringen ("praktische Konkordanz"). Sie sollen gewissermaßen ein Herz und eine Seele sein (lateinisch "cor" ist das Herz).
Natürlich sind beide Positionen richtig – aber eben nicht absolut, sondern jeweils nur in gewisser Weise.
Zunächst: Wir müssen voraussetzen, dass wir "als Gesellschaft" Rechte haben, die dem Staat vorgehen, also Grundrechte, und dass der Staat in sie nur eingreifen darf, wenn dies "verhältnismäßig" ist ("geeignet, erforderlich, angemessen" – auch das kann man so langsam nicht mehr hören). Aber dann: Wir sind nicht nur Bürger gegen den Staat (französisch "bourgeois"), sondern auch – und mit erhobenem Haupt! – Bürger im Staat, als Staat, kurz: Staats-Bürger (französisch "citoyen").
Wir dürfen ihn mitgestalten, deshalb sind wir aber auch für ihn verantwortlich. Wir wählen, dürfen in Parteien mitwirken, aber auch demonstrieren, mit dem Nachbarn diskutieren, Einfluss nehmen in alten und neuen Medien. Eben deshalb aber dürfen wir den Staat nicht madig machen und auch nicht madig machen lassen. Es läuft in diesem Staat keineswegs alles so, wie wir es für richtig halten. Aber es ist unser Staat. Wir dürfen alles tun, um ihn besser zu machen, und er würde uns sogar erlauben auszuwandern.
Zivilgesellschaft versus Staat: Hier wird gegeneinander ausgespielt
Um es einmal auf den Punkt zu bringen: In einem "freiheitlich-demokratischen" Staat, so wie wir ihn verstehen, sind wir alle auch Politiker (und Politikerinnen, versteht sich). Aus diesem Grund halten wir es für ganz irreführend und gefährlich, gegen den Staat die sogenannte Zivilgesellschaft auszuspielen, die es moralisch besser weiß.
Ganz im Gegenteil: Der rechtlich verfasste demokratische Staat ist die zivile, also politisch-bürgerliche (citoyen) Organisation "der Gesellschaft". Demgegenüber sind die übrigen Sphären der Gesellschaft – insbesondere deren wirtschaftlich-bürgerliche Organisation (bourgeois) und die Privatsphäre der Menschen – gerade nicht zivil, sondern privat, und der Staat muss sich daraus so weit wie möglich heraushalten.
Kurz: Der Begriff "Zivilgesellschaft" ist, wenn er sich gegen einen demokratischen Staat richtet, ein Widerspruch in sich selbst. Wenn wir politisch handeln, handeln wir zivil – und dann sind wir der Staat, wir sind gerade nicht "die Gesellschaft". Und es sind wir der Staat – nicht nur unsere Vertreter in Berlin und in den Ländern, in deren Regierungen und Parlamenten.
Der Staat ist kein bloßer Apparat
Was aber ist der Staat? Juristisch gesehen ganz einfach: Es gibt den Staat im engeren Sinn (Bund und Länder) und den Staat im weiteren Sinn (Städte, Gemeinden und Landkreise, aber auch die Handwerkskammern, Universitäten, Rundfunkanstalten etc.). Und letztlich eben: uns alle, als (Staats-)Bürger.
Aber was genau sollten wir dann unter dem "Staat" verstehen, der "wir alle" sind?
Fangen wir damit an, was unser Staat nicht ist: Er ist kein "Apparat", kein Mechanismus, der dazu dient, die Macht der Herrschenden zu erhalten. Dieses machtpolitische Verständnis von Staat gibt es erst seit Niccolò Machiavelli, und erst seither nennt man diesen Apparat auch "Staat" (italienisch "lo stato"). Vorher hieß es civitas oder res publica oder auch – zum Beispiel bei Thomas Hobbes – commonwealth. Der Staat, der wir alle sind, ist deshalb auch nicht etwa ein Gegner der "Gesellschaft", die es moralisch besser weiß.
Sondern: Der Staat, den wir meinen, ruht trotz allem auf einem Wir-Gefühl, auf Menschen, die sich mit ihm – in guten und in schlechten Tagen – identifizieren, das war schon Georg Wilhelm Friedrich Hegels großer Wunsch. Es mag zwar sein, dass wir in diesem Staat weniger "Zusammenhalt der Menschen" spüren als in der DDR. Aber der Zusammenhalt damals war, mit einem Staat als Feind und einer Mangelwirtschaft, teuer erkauft und obendrein trügerisch: Man wusste doch nie, ob das Gegenüber ein Freund oder ein Spitzel war! Vielleicht haben wir uns daher in der DDR mit dem "Zusammenhalt" auch ein bisschen was vorgemacht? Und ganz vielleicht beruht darauf sogar unsere jetzige Enttäuschung?
Vielleicht müssen wir uns also alle mit einem etwas abstrakteren Wir-Gefühl begnügen – einem Wir-Gefühl nicht mit den Mitmenschen um uns herum, sondern mit einer Institution – so wie manche Fans sich mit einem Fußballverein identifizieren. Dazu würde dann wohl auch gehören, dass man sich für die Geschichte dieser Institution interessiert, denn letztlich ist das, was man Identität nennt, immer eine Geschichte. Für Intellektuelle: ein Narrativ.
Der Staat muss Respekt vor dem Recht haben
Uns, den beiden Profs, die im Jurastudium die Grundlagenfächer Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie lehren, fällt dazu vor allem ein: Die Identität des Staates, wie wir ihn verstehen, hat ihre Wurzeln zum einen in der griechisch-römischen Antike – man denke nur an die Begriffe Demokratie (Griechisch) und Republik (Latein). Zum anderen ist unser Staat geprägt durch die jüdisch-christliche Tradition – vermutlich haben wir alle, auch die Atheisten, ausgerechnet vom Christentum die Neigung zu moralischer Überheblichkeit geerbt. Jesus zu Pilatus: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" – es ist viel, viel besser. Vor grausamen Kriegen, auch unter Christen, hat das die Menschen nicht bewahrt.
Gerade deshalb haben die Menschen irgendwann gemerkt: Der Staat muss zuallererst Respekt vor dem Recht haben. Das Recht ist daher auch in einer Demokratie kein bloßes Mittel, mit dem Politiker oder die "Zivilgesellschaft" ihre Wünsche und Moralvorstellungen umsetzen. Als bloßes Instrument zur Durchsetzung der Ideologie wurde es im Nationalsozialismus und in der DDR verwendet. Sondern der Staat ist selbst an das Recht gebunden – man sagt dazu Rechtsstaat. Deshalb sollte die Regierung auch nicht dauernd die Gesetze oder gar die Verfassung ändern: Ein Recht, das sich dauernd ändert, ist irgendwann kein Recht mehr. Ganz zu schweigen von Gesetzen, die so schlampig gemacht sind, dass keiner weiß, was genau drinsteht.
Staat mit "Wir-Gefühl" statt gespaltener Gesellschaft
Aber lasst uns am Ende politisch werden – uns, die beiden Jura-Profs, als Bürgerin und Bürger wie alle anderen auch. Was bedeutet dann "Wir sind der Staat"?
Wir glauben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Wir sind erwachsen.Wir vertragen die Wahrheit, und wir merken es, wenn "die Politik" uns veräppeln will. Wir würden es sogar vertragen, wenn man uns sagt, dass unser Gemeinwesen auf der Kippe zur Pleite steht und dass neue Staatsschulden ein Verbrechen an künftigen Generationen wären.
Wir sind aber auch bereit, andere Meinungen zu ertragen. Allerdings verlangen wir, dass alle Meinungen gehört werden – und nicht etwa, von wem auch immer, niedergebrüllt oder von vornherein diskreditiert.
Wir sollten bereit sein, für unseren Staat zu kämpfen ("Zivilcourage") – also nicht bloß hoffen, dass er das schon allein hinbekommt. Wir bekennen uns zu Solidarität, wobei das bedeutet: Einer für alle, alle für einen. Wir wollen den Staat daher nicht ausnutzen, sei es im großen Stil (Cum-Ex-Geschäfte) oder im kleinen (Bürgergeldmissbrauch). Wir würden eine Wehrpflicht und ein sonstiges Pflichtjahr nicht für Freiheitsberaubung halten. Wir würden es sogar ertragen, wenn wir alle zugunsten von Gemeinschaftsgütern ein wenig zurückstecken müssten. Politiker sollten mit gutem Beispiel vorangehen und auf zehn Prozent der Diäten verzichten.
"Wir sind der Staat" heißt nicht zuletzt: Wir verlangen Respekt vor dem Staat, so wie er uns in seinen Organisationen gegenübertritt. Also Respekt gegenüber der Polizei, Lehrkräften, Behörden, Krankenhausmitarbeitern und eben auch Politikerinnen und Politikern. Schließlich sind auch das "wir alle".
"Wir alle" statt Herrschaft des Volkes
Wenn man sich den Staat mit diesem Wir-Gefühl vorstellt, fällt es vielleicht leichter, noch einmal auf die Demokratie zurückzukommen und ein paar bittere Wahrheiten zu schlucken. Und den Menschen aus der ehemaligen DDR in zwei Punkten recht zu geben, wenn sie sich die Demokratie "so nun auch wieder nicht vorgestellt" haben.
Erstens: Das Wichtigste an der Demokratie ist die Regierung auf Zeit. Das liegt auf der Hand, wenn eine Partei wie die SED ihren Führungsanspruch notfalls mit Wahlfälschung zementiert. Es gilt aber auch, wenn ein Kanzler oder eine Kanzlerin sechzehn Jahre regiert – das kann nicht gut gehen. Es führt dazu, dass über die eingetretenen Pfade des Machterhalts immer diejenigen, die am lautesten schreien, das bekommen, was sie wollen. Demokratie ist, man vergisst es leicht, eigentlich Schutz der Mehrheit vor mächtigen Minderheiten.
Zweitens: Demokratie muss auf lange Sicht heißen: Manchmal gewinnt man, manchmal verliert man. Wenn immer wieder dieselben Parteien in wechselnden Kombinationen an der Regierung sind, dann entsteht nicht der Eindruck, dass sie sich wirklich in einem Wettbewerb um die besseren politischen Lösungen befinden. Schon gar nicht, wenn sie schon vor ihrer Amtszeit in einem Koalitionsvertrag die Beute verteilen, die sie für ihre jeweilige Klientel zu machen gedenken –sodasss für "uns alle" nur Schulden übrig bleiben.
Und doch, trotz alledem, wollen wir, die beiden Jura-Profs aus Ost und West, am Ende zusammenfassen: Demokratie heißt, wörtlich übersetzt, "Herrschaft" des "Volkes". Das ist hoffnungslos veraltet. Wer redet heute noch so? Man ersetze daher die Herrschaft (kratía) durch "Staat" und dḗmos durch "Wir alle". Dann ergibt sich: Demokratie ist der Wir-alle-Staat, in dem keiner etwas Besseres ist als die anderen. Nicht die da oben und auch nicht die da unten.
Die Autorin Prof. Dr. Susanne Hähnchen ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Potsdam.
Der Autor Prof. Dr. Joachim Lege war bis 2023 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte, Rechts- und Staatsphilosophie an der Universität Greifswald.
Demokratie und gespaltene Gesellschaft: . In: Legal Tribune Online, 16.02.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56603 (abgerufen am: 17.03.2025 )
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