Plädoyer vom Präsidenten des Landessozialgerichts NRW: Für ein zugäng­li­ches und effi­zi­entes Sozial­recht

Gastkommentar von Dr. Jens Blüggel

09.04.2025

Das Sozialrecht ist sehr komplex. Den Bürgern erschwert es so den Zugang zu Leistungen. Längst existieren konkrete Vorschläge, wie es besser ginge. Einige sind nun in den Sondierungspapieren enthalten. Was also sollte sich ändern?

"Eine alleinerziehende Frau mit einem pflegebedürftigen Vater hat Anspruch auf ungefähr zwölf Sozialleistungen, denen vier verschiedene Einkommensbegriffe zugrunde liegen, und sie muss sich mit acht Bewilligungsstellen befassen." Mit diesem Beispiel illustrierte der frühere Bundesminister Peer Steinbrück (SPD) kürzlich auf der Pressekonferenz der "Initiative für einen handlungsfähigen Staat", wie komplex das Sozialrecht sein kann.

Diese Initiative gründete Steinbrück zusammen mit der Medienmanagerin Julia Jäkel, dem früheren Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) sowie dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle. In ihrem Zwischenbericht aus März 2025 führen sie aus: "Der deutsche Sozialstaat ist überaus komplex organisiert, mit einer Vielzahl von Schnittstellen und verschiedenen sozialen Hilfen und Förderungen. Fünf Bundesministerien verantworten etwa 170 Leistungen, die von fast 30 Behörden unter Verwendung unterschiedlicher Begrifflichkeiten verwaltet und in 16 Ländern mit 400 kommunalen Gebietskörperschaften teils unterschiedlich umgesetzt werden. Die Verwaltungen sind mit dem Vollzug überlastet, die Anspruchsberechtigten mit Antragstellungen überfordert, und die Zuweisung von sozialen Hilfen und Förderungen führt nicht selten zu falschen Anreizwirkungen."

Der Nationale Normenkontrollrat hatte die Komplexität des Sozialrechts bereits genauer herausgearbeitet. Er prüft als unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung die transparente und nachvollziehbare Darstellung der Bürokratiekosten und den Erfüllungsaufwand von Bundesnormen. Er hat im Jahr 2024 ein lesenswertes Gutachten "Wege aus der Komplexitätsfalle – Vereinfachung und Automatisierung von Sozialleistungen" veröffentlicht, das die Unternehmensberatung Deloitte für den Rat erstellt hatte. Die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" hat manches aus diesem Gutachten aufgegriffen.

Kumulation von vielen Sozialleistungen

Eine zentrale Erkenntnis des Gutachtens lautet: Es gibt eine Kumulation von vielen Sozialleistungen. Diese stehen in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander: dem Alternativverhältnis (also Vor- und Nachrang) sowie dem Anrechnungs- oder Additionsverhältnis. Daraus resultiert eine unerschöpfliche Anzahl möglicher Fallkonstellationen. Dieses Geflecht von Sozialleistungen ist unübersichtlich und intransparent. Dies hält Berechtigte davon ab, ihnen zustehende Sozialleistungen zu beantragen.

Daneben gibt es - so der Normenkontrollrat weiter - ein Beratungsdefizit: Es fehlt ganzheitliche Beratung an einer zentralen Stelle. Stattdessen beraten Behörden nur in ihrem jeweiligen Zuständigkeitssektor. Ferner existieren nicht harmonisierte Begriffe (z.B. Einkommen). Im Übrigen herrscht ein hohes Maß an Einzelfallbetrachtung.

In organisatorischer Hinsicht diagnostiziert der Normenkontrollrat eine hohe Behördenanzahl mit jeweils eigenen Verwaltungsstrukturen und -prozessen, IT-Systemen und Datenbeständen. Die Koordination zwischen den Behörden erfolge oft mit langer Bearbeitungsdauer und Zuständigkeitskonflikten sowie hohem Koordinierungsbedarf, vor allem bei Vor- und Nachrangigkeiten einzelner Leistungen. Es fehle eine übergreifende Steuerung, auch, weil mehrere Bundesministerien involviert seien.

In technischer Hinsicht kommt der Normenkontrollrat zu dem ernüchternden Befund, es existiere kaum ein verbindendes Element, wie zum Beispiel gemeinsam genutzte Fachverfahren, Standards oder IT-Architekturgrundsätze.

Aus Sicht des Normenkontrollrats bewirkt all das eine Komplexitätsfalle: Aus dem bestehenden System resultiere ein unverhältnismäßiger bürokratischer Aufwand für die Gewährung von staatlichen Sozialleistungen mit einem hohen Grad an Ineffektivität und Ineffizienz.

In der Komplexitätsfalle?

Aus dem Befund Komplexität allein folgt aber noch kein Handlungsbedarf. Komplexität allein ist nicht behandlungsbedürftig. Entscheidend ist vielmehr: Ist das Sozialrecht zu komplex oder gar "überkomplex"? Die Direktiven bei der Organisation und Ausgestaltung eines Systems sollten Effizienz und Effektivität sein. An einem ineffizienten Sozialrechtssystem wird niemandem gelegen sein.  

Effektivität im Sozialrecht bedeutet, dass die Sozialleistungen auch dort ankommen, wo sie hinsollen. Das ist eine ganz wichtige Direktive. Denn sie hat zugleich auch eine Gerechtigkeitskomponente: Kommen Sozialleistungen bei den Adressaten entgegen der legislativen Zielsetzung nicht an, kann ein solches Ergebnis wohl kaum als gerecht bezeichnet werden. Es geht hier um den gleichen Zugang zum Recht. Ein Beispiel: Groben Schätzungen zufolge wird die Hälfte der Bürger, die sehr geringe Rente beziehen und Anspruch auf ergänzende Grundsicherung im Alter haben, vom Hilfesystem nicht erreicht. Die Quote der Nichtinanspruchnahme unterscheidet sich dabei je nach Bildungsgrad sehr deutlich.  

Dass unser Sozialrechtssystem sowohl unnötige als auch schlecht organisierte Komplexität aufweist und es in Sachen Effizienz und Effektivität noch Luft nach oben hat, dürfte eine konsensfähige Feststellung sein. Jeder, der lange im Sozialrecht tätig ist, sei es als Normadressat, Normanwender oder Normgeber, wird hierzu ganz eigene, reichhaltige Erfahrungen haben. Das gilt es zu verändern.

Wege aus der Komplexitätsfalle

Eine wesentliche Empfehlung des Normenkontrollrates lautet, die Kumulation von Sozialleistungen aufzulösen. Die zahlreichen Anrechnungsverhältnisse sollten auf ein Minimum reduziert werden. Fundamentaler Bestandteil dessen müsse die eindeutige Zuweisung einer Leistung zu einem Bedarf sein, zum Beispiel für den Bedarf Wohnen. Im Idealzustand werde nur eine gebündelte Leistung (mit Einzelbestandteilen) pro Bedarf erbracht. Bündele man Leistungen in dieser Weise, entfielen damit zugleich behördliche Zuständigkeitsfragen und -abgrenzungen.

Ferner müsse nach den Erkenntnissen des Normenkontrollrats der Verwaltungsvollzug auf den föderalen Ebenen reformiert und insbesondere digital transformiert werden. Die Pfadabhängigkeiten des historisch gewachsenen Systems könnten nur schwer durch unkoordinierte Einzelmaßnahmen verschiedener Ressorts aufgelöst werden. Der konsequente Weg sei die Bündelung der Federführung für alle Leistungen der sozialen Sicherung in einem Bundesministerium. Wichtig sei ferner die Neugestaltung der Auskunfts- und Beratungspflicht der Sozialleistungsträger. Beratungssuchende benötigten eine einzige zentrale Anlaufstelle vor Ort, die einen ganzheitlichen Zugang zu allen Sozialleistungen eröffne.  

In technischer Hinsicht sei ein gemeinsamer offener IT-Fachstandard mit standardisierten Schnittstellen sowie einem einheitlichen Architekturmanagement und einheitlichen Basiskomponenten notwendig. Dafür seien eine langfristige Finanzierung durch Bund und Länder sowie technische und organisatorische Unterstützung für die Kommunen notwendig.

Sondierungen lassen hoffen

Diese konkreten Vorschläge des Normenkontrollrates waren im politischen Raum, soweit von außen erkennbar, zunächst nicht aufgenommen worden. Das hat sich geändert. Im Sondierungspapier von CDU, CSU und SPD vom 8. März 2025 wird ausgeführt: "Viele soziale Leistungen sind unzureichend aufeinander abgestimmt. Wir wollen Leistungen zusammenfassen und besser aufeinander abstimmen, etwa durch die Zusammenführung durch Wohngeld und Kinderzuschlag. Wir wollen, dass – wo immer möglich – Leistungen und Beratung aus einer Hand erbracht werden. Die Prozesse müssen digitalisiert werden." Damit werden einige wesentliche Empfehlungen des Normenkontrollrates aufgegriffen.

Zusammenfassend weiß man also, was zu tun ist, um die Komplexität des Sozialrechts zu reduzieren oder den Umgang mit ihr besser zu organisieren. All dies würde den Menschen einen einfachen Zugang zum Sozialrecht und seinen Leistungen eröffnen. Man muss ja nicht gleich alle Vorschläge umsetzen. Aber einfach einmal anzufangen – das wäre gut.

Der Autor Dr. Jens Blüggel ist Präsident des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen.

Zitiervorschlag

Plädoyer vom Präsidenten des Landessozialgerichts NRW: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56969 (abgerufen am: 25.04.2025 )

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