Gerade weil Strafverfahren mehr sind als reine Rechtsanwendung sind Schöffen alles andere als "überholt". Und vor allem: Sie sind verfassungsrechtlich legitimiert. Wer sie abschaffen will, braucht sehr gute Argumente, schreibt Hasso Lieber.
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, die in der Rechtsprechung - in Ermangelung von Wahlen und Abstimmungen - durch "besondere Organe" ausgeübt wird. Das steht so im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2 GG). Diese besonderen Organe in der Rechtsprechung sind die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter, die in Strafsachen die traditionelle Bezeichnung "Schöffen" tragen (§ 45a Deutsches Richtergesetz (DRiG)). Ihre Legitimation beruht bundesrechtlich auf Verfassungsgewohnheitsrecht (etwa BVerfG, Beschluss vom 30.5.1978, Az.: 2 BvR 685/77), landesverfassungsrechtlich in zwölf von 16 Ländern auf der Garantie, dass "an der Rechtsprechung Frauen und Männer aus dem Volke an der Rechtsprechung teilnehmen". Auf dieser Basis regelt § 1 DRiG: "Die rechtsprechende Gewalt wird durch Berufsrichter und durch ehrenamtliche Richter ausgeübt."
Wer an dieser verfassungsrechtlich gesicherten Position rütteln will, braucht gute Argumente, mit denen die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Ausübung der rechtsprechenden Gewalt eingeschränkt oder gar abgeschafft werden soll. Diese liefert Strafrechtler PD Dr. Oliver Harry Gerson in einem LTO-Gastbeitrag gerade nicht.
Gerson bringt im Wesentlichen drei Argumente gegen das Schöffenamt vor: die Gefahr rechtsextremer Unterwanderung, die mangelnde Fähigkeit der Schöffen, einen Beitrag zur Subsumtion unter juristische Tatbestände schon aufgrund fehlender Beherrschung der juristischen Fachsprache leisten zu können - und schlussendlich bezweifelt er, dass Schöffen "Lebenswissen" in das Verfahren einbringen können. Doch nur in Bezug auf die Notwendigkeit von Reformen des Schöffenamtes hat er einen Punkt – ansonsten offenbart der Text typische Fehler in der Denkweise von Juristen.
Unterwanderung der Justiz durch Rechtsextreme im Schöffenamt?
In Bezug auf die mögliche Unterwanderung der Justiz durch Rechtsextreme im Schöffenamt verweist Gerson auf Aufrufe zur Schöffenwahl 2018 von NPD und Pegida an ihre Anhänger, sich für das Schöffenamt zu bewerben. Er befürchtet eine Instrumentalisierung des Schöffenamtes. Hier offenbart sich zunächst einmal eine mangelnde Kenntnis davon, wie die Schöffen in ihr Amt gewählt werden. Um in die Vorschlagsliste einer Gemeinde oder eines Jugendhilfeausschusses – mit mindestens der doppelten Zahl von Bewerbern, wie an Schöffen benötigt werden – aufgenommen zu werden, bedarf es für jeden einzelnen Bewerber oder Vorgeschlagenen einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Mitglieder des jeweiligen Gremiums. Aus dieser Liste werden vom Schöffenwahlausschuss bei jedem Amtsgericht – wiederum mit Zwei-Drittel-Mehrheit – die Haupt- und Ersatzschöffen in allgemeinen und Jugendstrafverfahren bei den Amts- und Landgerichten gewählt. Über eine solche Mehrheit verfügt keine politisch extreme Kraft in irgendeiner Region in Deutschland.
Juristische Kenntnisse von Schöffen?
Mit dem Einwand der mangelnden Beherrschung der Subsumtionstechnik und der juristischen Fachsprache liefert Gerson eines der Hauptargumente für die Beteiligung nicht notwendig juristisch-wissenschaftlich vorgebildeter Personen. Die Forderung nach Verständlichkeit richtet sich an die Berufsjuristen, die dafür Sorge tragen müssen, dass die in aller Regel nicht juristisch vorgebildeten Angeklagten und Zeugen Verfahren und Sprache verstehen. Schon der Zwang, sich in Beweisaufnahme und Urteilsbegründung sprachlich wie argumentativ so auszudrücken, dass dies auch Personen verstehen, die nicht jedes juristische Schlagwort mit einer bestimmten Vorstellung verbinden, macht die Anwesenheit der "Frauen und Männer aus dem Volke" zu einem wertvollen Korrektiv. Dazu haben sie in der Beweisaufnahme das Recht, Fragen an Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen zu stellen (§ 240 Abs. 2 StPO) und als gleichberechtigte Mitglieder des Gerichts (§ 45 DRiG) Beweisanregungen zu machen oder in der Beratung Alternativen zu Beweiswürdigung und Strafmaß zur Diskussion und Abstimmung zu stellen.
Rolle der Schöffen?
Das falsche Verständnis von der Rolle der Schöffen wird besonders deutlich, wenn Gerson dem Schöffen abspricht, "etwaige Fehler in der Rechtsanwendung aufzudecken". Gerade die strafgerichtliche Rechtsprechung ist so unendlich viel mehr als nur reine Rechtsanwendung. Wie eine Verhaltensweise, ein Motiv, ein Irrtum usw. zu werten sind, erfordert häufig eine Beurteilung von Charakter, Lebensführung und -verhältnissen, die nicht allen Mitgliedern des Gerichts immer vertraut sind, aber der kritischen tatsächlichen, nicht nur juristischen Diskussion bedürfen.
Die aus rein ökonomischen Gründen fatale Zunahme des Einzelrichters führt in einer Vielzahl von Verfahren zu einer Entscheidung, die dem Einzelentscheider völlig problemlos erscheint. Die Diskussion unterschiedlicher Wahrnehmungen und Auffassungen oder die Verständnisfrage eines Schöffen kann Aspekte hervorbringen, die zur adäquaten Beurteilung des Angeklagten und der angeklagten Tat erörtert werden müssen, selbst wenn sie nach der Beratung keine Berücksichtigung finden. Dass reine Rechtsanwendung selbst dem göttlichen Richter nicht genügen kann, hat der Jurist Goethe in seiner Ballade "Der Gott und die Bajadere" dargelegt: "Soll er strafen oder schonen, muss er Menschen menschlich sehen." Wie schon Martin Luther sagte: "Ein Jurist, der nicht mehr ist als ein Jurist, ist ein armselig Ding." Der Vorwurf fehlender Kenntnisse der ehrenamtlichen Richter in der Subsumtion macht einen typischen Fehler vieler Juristen deutlich, die sich auf die Erörterung rechtlicher Probleme fixieren und die Auswertung sozial oder individuell bedingter untypischer Verhaltensweisen oder Sachverhalte vernachlässigen.
Hierüber verhalten sich rechtstatsächliche Forschungen wie die von Glöckner et al. zum Entscheidungsverhalten von Schöffen aus dem Jahre 2010. Hier gaben 64 Prozent der befragten Schöffen an, sich mit einer abweichenden Meinung in die Diskussion eingebracht zu haben; 47 Prozent konnten sich ihren Angaben zufolge mit dieser abweichenden Meinung auch durchsetzen. Zudem scheint das Amt spiegelnde Effekte zu haben, wenn in der Untersuchung spezifische "Schöffen-Persönlichkeitsmerkmale" in Abweichung zu Merkmalen der übrigen Bevölkerung festgestellt wurden. Dies unterstreicht die in der Literatur häufig angeführte Auffassung, dass die Ausübung des Ehrenamtes Einfluss auf das persönliche Wertesystem der Amtsinhaber hat.
Insoweit muss man dem Gesetzgeber den Vorwurf machen, seit Jahrzehnten das Partizipationsgebot des Art. 20 GG und der Landesverfassungen zu verletzen, weil in über 87 Prozent der Verhandlungen bei den Amtsgerichten der (Jugend-)Einzelrichter agiert. Zu einem hohen Prozentsatz werden Strafen zudem im schriftlichen Verfahren verhängt, ohne dass der Betroffene jemals einem Richter ins Auge blicken musste. In der Theorie wird viel über die Präventionswirkung von Strafen diskutiert; in der Praxis geschieht das genaue Gegenteil. Schon das Verfahren hat eine eigene Präventionswirkung – in der Wahrnehmung des Angeklagten durch das Gericht, der Vermeidung von Fehlern bei der Tatsachenfeststellung wie bei der Festsetzung der Sanktion. Auch die subjektive Situation der Angeklagten ist eine andere, wenn sie sich nicht nur der juristischen Sprache und dem Denken in rechtlichen Kategorien gegenübersehen, sondern auch den nicht mit einer Robe Bekleideten, von denen man erwarten kann, dass sie eine Einlassung nicht auf die bloße Bedeutung der Erfüllung von Tatbestandsmerkmalen reduzieren.
Kontrollfunktion der ehrenamtlichen Richter?
Eine wesentliche Funktion der ehrenamtlichen Richter lässt Gerson völlig außer Betracht, dass nämlich die nicht in ein Dienstverhältnis mit Karriereaussichten oder in die Kollegialität des Berufsstandes eingebundenen Mitglieder des Gerichts eine Kontrollfunktion innerhalb der Dritten Staatsgewalt ausüben – von der Alltagssituation, dass der Berufsrichter in dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft auch den Kollegen als Gegenüber hat, bis zu rechtstatsächlich erforschten Problemen wie den systematischen Rechtsverstößen bei der Verständigung in der Hauptverhandlung (§ 257c Strafprozessordnung (StPO)).
Dass die Beteiligung ehrenamtlicher Richter auch mit gesellschaftlicher Macht zu tun hat, zeigt ein Vergleich mit den ehrenamtlichen Arbeits- und Sozialrichtern. Ersteren stehen mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden einflussreiche gesellschaftliche Organisationen zur Seite, die nicht nur vorschlagsberechtigt sind, sondern auch für eine entsprechende Vorbereitung der Bewerber für das Amt Sorge tragen. In der Sozialgerichtsbarkeit konnte 2018 so eine sächsische Initiative zur Einführung des "konsentierten Einzelrichters" abgewehrt werden. Der Richter beim Sozialgericht sollte als Einzelrichter entscheiden können, wenn beide Parteien des Verfahrens auf die Beiziehung von ehrenamtlichen Richtern verzichteten. Bei den Schöffen gibt es eine solche starke Unterstützung nicht in dem Maße, obwohl die Einwirkungen der gerichtlichen Entscheidungen auf den Bürger in der Strafgerichtsbarkeit am unmittelbarsten sind.
Reform der Schöffenwahl!
In einem Punkt weisen die Gedanken von Gerson in eine weiter zu verfolgende Richtung. Erfolg, Effizienz und Akzeptanz des richterlichen Ehrenamtes hängen im Wesentlichen davon ab, ob die geeigneten Personen für das Amt gefunden werden. Jeder wählbare Bürger darf, aber nicht jeder kann und soll auch Schöffe werden.
Gerade die Schöffenwahl 2023 hat deutlich gemacht, dass das Wahlverfahren strukturelle Mängel aufweist, die zu beseitigen sind. Aufgrund einer oberflächlichen, reinen Werbekampagne haben sich 2023 überdurchschnittlich viele Personen beworben, sodass die Gemeindevertretungen (weniger die Jugendhilfeausschüsse) einem Ansturm gegenüberstanden, den zu bewältigen sie häufig nicht in der Lage, oft auch gar nicht willens waren. Auch wenn sich deutlich mehr als das Doppelte der erforderlichen Zahl von Schöffen für das Amt bewarben (teilweise bis zum fünffachen), verzichteten viele Gemeindevertretungen auf eine qualitative Entscheidung und haben die Bewerber schlicht an die Schöffenwahlausschüsse bei den Amtsgerichten "durchgewunken".
Diese mussten mit formalen Kriterien – z. B. der Zugehörigkeit der Bewerber zu sozialen Gruppen – ihre Wahlaufgabe erledigen mit der Folge, dass Personen in das Amt gewählt wurden, die die entsprechenden charakterlichen Voraussetzungen nicht mitbrachten. Wenn z. B. eine Schöffin am Ende des ersten Jahres ihrer Tätigkeit auf die Frage, ob sie beim Amts- oder Landgericht Schöffin sei, antwortet, dass sie das nicht genau wisse, weil beide Gerichte in einem Gebäude seien. Hier muss an der Bereitschaft zur Sorgfalt gezweifelt werden, wenn nicht einmal die Benachrichtigung von der Wahl und die Terminsladung ordentlich gelesen werden.
Die Wahl weist aber ein weiteres strukturelles Problem auf. Alle fünf Jahre werden mindestens 120.000 Bewerber gesucht, obwohl die Zahl der Verfahren und damit die der benötigten Schöffen sinkt. Das stellt insbesondere Großstädte vor Probleme hinsichtlich der Beurteilung der Bewerber. Die Bekanntmachungen zur Schöffenwahl sind meist formal und ohne die notwendigen Hinweise auf die Anforderungen. Das zentrale Problem ist nicht der Gerson’sche Vorschlag der Abschaffung des Schöffenamtes, sondern die Antwort auf die Frage, wie die geeigneten Personen für das Amt gefunden werden. Die Lösung dieses Problems ist allerdings dringend.
Der Autor Hasso Lieber ist ehemaliger Vorsitzender Richter am Landgericht, ehemaliger Staatssekretär für Justiz und nun als Rechtsanwalt tätig. Im Jahr 1989 gründete er die Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen sowie im Jahr 2012 das Europäische Netzwerk der Vereinigungen ehrenamtlicher Richter (ENALJ). Hasso Lieber ist zudem geschäftsführender Gesellschafter Partizipation in der Justiz (PariJus) – Gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung zivilgesellschaftlicher Teilhabe mbH und Herausgeber der Zeitschrift für ehrenamtliche Richterinnen und Richter "LAIKOS Journal Online".
Reaktion auf LTO-Gastbeitrag zur Einschränkung und Abschaffung der Schöffenbeteiligung: . In: Legal Tribune Online, 03.05.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57112 (abgerufen am: 14.05.2025 )
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