Der Podcast "Rammstein – Row Zero" hat den renommierten Reporterpreis gewonnen, obwohl bei allen Folgen Aussagen gerichtlich verboten wurden. Die Jury und Macher vom Reporterpreis stört das nicht. Sollte es aber, meint Felix. W. Zimmermann.
"Weil wir glauben, dass das gute Beispiel der beste Weg ist zu besserem Journalismus", lautet der Glaubenssatz des Reporter:innenpreises – eine der wichtigsten Auszeichnungen im deutschen Journalismus. Laut Eigenbeschreibung verfolgt er den Sinn jedes Jahr "vorbildliche" journalistische Arbeiten zu prämieren.
Letzte Woche war es wieder so weit. In Berlin wurden die Preise für das Jahr 2024 vergeben. Der NDR-SZ-Podcast "Rammstein – Row Zero" wurde von einer Jurygruppe offenbar als besonders vorbildlich beurteilt. Er gewann den Preis für den besten Podcast. Der Podcast erzählt die "Geschichten junger Frauen, die in das Sex-Rekrutierungssystem eines Weltstars geraten sind". Ein fraglos gesellschaftlich relevantes Thema zum Machtmissbrauch in der Musikindustrie.
Damit wurde allerdings auch ein Podcast als besonders vorbildlich prämiert, der zunächst komplett aus dem Netz gestellt werden musste, weil massiv Urheberrechte von Rammstein verletzt wurden. Dabei ging es um die Rechte für eingespielte Musik. Dies mag man für die Bewertung journalistischer Leistungen außer Acht lassen können. Doch darüber hinaus setzte Rammstein-Sänger Till Lindemann nicht nur bei einer Folge, sondern bei jeder einzelnen Episode gerichtliche Verbotsverfügungen vor dem Landgericht Hamburg durch. Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass in allen Folgen die Persönlichkeitsrechte von Lindemann verletzt wurden.
Schwerwiegende Vorwürfe
Auch das allein spricht nicht unbedingt gegen eine Prämierung. Denn wenn Anwälte sich auf Fehlersuche machen, werden sie oft in Nebensächlichkeiten fündig, die mit dem Kern der Recherche nichts bis wenig zu tun haben. Auf LTO-Anfrage stuft der NDR die Verbote allesamt in diese Kategorie ein. Es seien nur "unwesentliche Teile des Podcasts" verboten worden. Alle Frauen kämen weiterhin zu Wort.
"Unwesentliche Teile"? Dies lässt sich so sicherlich für die untersagten falschen Tatsachenbehauptungen im Podcast festhalten, wonach ein gerichtlicher Sieg Lindemanns noch nicht rechtskräftig sei. Und auch für die Behauptung, eine Konzertbesucherin sei am Abend nach einer Begegnung mit Lindemann von dessen Manager getröstet worden. Mit etwas gutem Willen kann man auch die Falschbehauptung als unwesentlich einstufen, wonach die Kanzlei von Lindemann, Schertz Bergmann, bei allen Vorwürfen von Frauen gegen Lindemann angedroht habe, diese zu verklagen.
Doch das Landgericht Hamburg verbot wegen unzureichender Belege auch schwerwiegende Vorwürfe gegen Lindemann wegen rechtswidriger Verdachtsberichterstattung: In Folge 1 verbot es den Verdacht, Lindemann habe Sex mit einer Frau ohne ihre Zustimmung gehabt (Beschl. v. 01.08.2024, Az. 324 O 306/24). In Folge 2 untersagte es die Erörterung, Lindemann könnte sexuelle Handlungen an bewusstlosen Frauen vorgenommen haben (Beschl. v. 24.07.2024, Az. 324 O 307/24). In Folge 3 wurde in den Raum gestellt, Till Lindemann könne als DDR-Schwimmer früher gedopt gewesen sein. Ohne Belege, so das Gericht (Beschl. v. 14.08.2024, Az. 324 O 317/24). Und in Folge 4 wurde die diesmal konkrete Verdächtigung untersagt, Lindemann habe sich an einer bewusstlosen Frau ohne deren Zustimmung sexuell vergangen (Beschl. v. 21.08.2024, 324 O 329/24).
Gericht sieht keinen Mindestbestand an Beweisen
Solche schweren Vorwürfe, die – entsprächen sie der Wahrheit – Lindemann ins Gefängnis bringen könnten (§ 177 Strafgesetzbuch: Vergewaltigung, sexueller Übergriff), sollen für den Podcast "unwesentlich" sein? Es ist wohl eher das Gegenteil richtig. Das widerwärtige Sexrekrutierungssystem des Rockstars Lindemann ist in seiner durchgeplanten Art und Weise wohl einmalig und wird vom Podcast und den dort auftretenden Frauen überzeugend angeprangert. Doch der journalistische Clou läge darin, Lindemann nicht nur unmoralisches, sondern auch strafrechtlich relevantes Verhalten vorwerfen zu können. Und genau deswegen tauchen die Verdächtigungen wohl auch im Podcast auf. Der NDR machte sogar Werbung mit ihnen, so für die Ankündigung von Folge 4 des Podcasts ("Der Verdacht (…) wiegt schwer"). Es handelt sich also weder für Lindemann noch für den NDR um nebensächliche Aspekte.
Und das Gericht beanstandete nicht nur, dass für die Verdächtigungen keine hinreichenden Belege bestehen. Der Beschluss zeigt auch Widersprüchlichkeit im Podcast auf: In einer eidesstattlichen Versicherung hatte Cynthia A. ausdrücklich davon gesprochen, dem Sex mit Lindemann zugestimmt zu haben. Gleichwohl erwecke der Podcast den Verdacht, Lindemann habe "ohne deren Zustimmung und gegen deren erkennbaren Willen" Sex mit ihr gehabt, so das Gericht. Auch lässt sich dem Beschluss entnehmen, dass im Podcast tendenziös über die Einstellung des Strafverfahrens berichtet wurde.
Nun sind selbstverständlich Gerichtsbeschlüsse nicht sakrosankt. Gerade im Presserecht, wo es sehr auf Wertungen der Richter:innen ankommt, können andere Instanzen leicht zu abweichenden Ergebnissen kommen. Doch der NDR hat nach LTO-Informationen drei der vier einstweiligen Verfügungen als endgültige Entscheidung akzeptiert. Heißt: Er kämpft nicht weiter für die Rechtmäßigkeit der Berichterstattung und versprach die konkreten Aussagen nicht zu wiederholen.
Jurymitglieder schweigen
Wie kann es sein, dass ein Podcast voller gerichtlich festgestellter Persönlichkeitsrechtverletzungen den Reporter:innenpreis für vorbildliche Leistungen erhält? Dessen Jury ist mit vielen renommierten Journalisten besetzt. Allerdings entscheiden nicht alle Jury-Mitglieder über alle Rubriken, sondern sie werden in Gruppen aufgeteilt.
In der "Podcast-Jury" entschieden eine Comedy-Autorin und ein Business Coach, natürlich jeweils mit journalistischem Hintergrund. Außerdem erfolgreiche Podcaster in den Bereichen Gesundheit und Sex. Eine Jurorin wurde vormals selbst mit dem Podcast-Preis für eine investigative Recherche ausgezeichnet.
Nachfrage bei Jurymitgliedern. War Ihnen der konkrete Inhalt der Verbote bekannt? Wenn ja, warum wurde trotz der Rechtsverletzungen der Preis verliehen? Ist die Rechtmäßigkeit von Berichterstattung kein Qualitätsmerkmal? Die von LTO angefragten Jury-Mitglieder wollen sich zu keiner Frage äußern. Zwei verweisen auf den Ausrichter des Preises, den Verein Reporter:innen-Forum.
Chef des Reporterpreises hat kein Störgefühl
Anfrage beim dortigen Vereinsvorsitzenden: Statt die konkreten Fragen zu beantworten, zieht Ariel Hauptmeier die Berechtigung der Fragen in Zweifel. Die Anfrage verstehe er "leider überhaupt nicht" und auch nicht "den ganzen Ansatz Ihrer Fragen". Der Chef des Reporterpreises hat keinerlei Störgefühl, dass ein Podcast mit Rechtsverletzungen prämiert wurde, sondern für die Frage allein Unverständnis übrig.
"Dass Berichterstattung juristisch angegriffen wird, ist nicht neu - warum sollen Arbeiten danach anders von Jurys beurteilt werden?", schreibt Hauptmeier. Der Gedanke, dass gerichtliche Feststellungen zu unwahren Tatsachenbehauptungen und Persönlichkeitsrechtsverletzungen auch etwas über die journalistische Qualität aussagen können, ist Hauptmeier offenbar fremd. Doch auch nach dem Pressekodex haben Journalisten nicht nur die Wahrheit zu achten (Ziffer 1), sondern auch den Schutz der Persönlichkeitsrechte zu beachten (Ziffer 8.). Und der Preis soll doch gerade für besonders "vorbildliche" journalistische Werke vergeben werden. Solche, die Schule machen sollen. Kann das bei einem Podcast mit Persönlichkeitsrechtsverletzungen in jeder Folge wirklich bejaht werden?
Der Verein, der eigentlich für Transparenz und die Pressefreiheit stehen will, blockt die Anfrage ab. Weder will Hauptmeier das von den Nominierten einzureichende "Making Off" des Podcasts herausgeben, noch werden Fragen zur Verantwortlichkeit der Bestimmung von Jurymitgliedern und Gruppeneinteilung beantwortet, genauso wenig wie weitere Fragen zu Preiskriterien und dem Informationsstand der Jury.
Der Sache nach lässt Hauptmeier allerdings wissen, dass der Jury jene Podcastfassung vorgelegen habe, "die nach ausführlichen juristischen Auseinandersetzungen weiterhin publiziert wird". Die Botschaft dahinter ist offenbar: Der Podcast ist auch mit den aus Rechtsgründen entfernten Passagen preiswürdig. Eine fragwürdige Argumentation. Denn der Ursprungspodcast war ab Mitte Mai 2024 online und blieb mehrere Monate bis zu den gerichtlichen Verfügungen im Juli und August im Netz abrufbar. Die allermeisten Zuhörer werden also die Fassungen mit den Persönlichkeitsverletzungen gehört haben. Die Preisverleihung damit zu rechtfertigen, dass der Podcast ja schließlich Monate später neu gefasst wurde, muss daher nicht überzeugen.
Preisverleihung nicht trotz, sondern wegen des Rechtsstreits?
Ein Blick in die offizielle Begründung für die Preisverleihung lässt aber ohnehin vermuten, dass der Podcast den Preis nicht "trotz" der Rechtsstreitigkeiten erhalten hat, sondern "wegen" ihnen. So heißt es nach dem Lob für das Feingefühl, mit dem die Journalist:innen die Geschichte der betroffenen Frauen erzählten: “Die Jury unterstrich den Mut, sich gegen einen mächtigen Mann wie Till Lindemann zu stellen und dafür auch einen Rechtsstreit in Kauf zu nehmen.”
Schon die Einstufung eines Rock-Sängers in die Kategorie "mächtiger Mann" wirft Fragen auf. Hier von Interesse ist aber vor allem, dass die Inkaufnahme eines Rechtsstreits als Akt des Mutes bezeichnet wird. Medienjournalist Stefan Niggemeier nannte das auf X eine "merkwürdige Formulierung für 'gegen den der Beschuldigte in mehreren Fällen erfolgreich juristisch vorgegangen ist'".
Doch die Jurygruppe "Podcast" präsentiert die Rechtsstreitigkeiten vielmehr als Gütesiegel für die Berichterstattung, trotz der reihenweisen Niederlagen vor Gericht. Schade für die anderen nominierten Podcasts, die keinen Rechtsstreit vorweisen und daher auch nicht für Mut belohnt werden konnten. Etwa die Spiegel-Podcast-Produktion: "NDA – Die Akte Kasia Lenhardt" über Gewaltvorwürfe gegen Ex-Fussballnationalspieler Jérôme Boateng, der überaus sorgfältig juristisch redigiert wurde, ohne dadurch an Schlagkraft zu verlieren.
Welchen Mut brauchten die Podcast-Macher?
Nun lässt sich allerdings auch nicht pauschal sagen, dass rechtlicher Kampf nie als "mutig" bezeichnet werden kann. Ein fiktives Beispiel: Eine freie Journalistin deckt einen Missstand in einem Unternehmen auf, das sie daraufhin mit Schikane-Abmahnungen überzieht und hohe hohe Antwaltskosten fordert. Doch die Journalistin bleibt dran, trotz der hohen finanziellen Risiken und siegt dann auch noch im Streit um den Kern ihrer Recherche vor Gericht. Dies kann und sollte als "mutig" bezeichnet werden.
Die für den Podcastverantwortlichen Journalisten rund um den Leiter der NRD-WDR-SZ-Recherchekooperation Daniel Drepper, müssen jedoch zu keinem Zeitpunkt finanzielle Konsequenzen fürchten. Die Anwalts- und Gerichtskosten von sicherlich inzwischen 20.000,- Euro trägt der NDR und damit der Rundfunk-Beitragszahler. Eine LTO-Anfrage zum benötigten Mut, lassen Drepper und der NDR unbeantwortet.
Jurymitglied: "Podcastjury hat ihren Job nicht gemacht"
Nach LTO-Informationen stieß die Begründung für die Reporterpreis-Auszeichnung des besten Podcasts auch bei Jury-Mitgliedern aus anderen Rubriken auf Unverständnis. Ein langjähriges Jurymitglied, das anonym bleiben möchte, stört sich gegenüber LTO vor allem an der Begründung in der Laudatio. Dort sei fast ausschließlich auf Faktoren abgehoben worden, die außerhalb des eigentlichen Werkes liegen und "nichts mit der Qualität der Recherche oder der Arbeit eines Reporters zu tun haben. Das irritiert mich, und wie ich aus Gesprächen nach der Preisverleihung weiß, auch andere Jurymitglieder".
"Dass eine Geschichte Empörung erzeugt, dass sich viele betroffen fühlen, dass eine Presserechtskanzlei Gegendruck erzeugt, dass Shelby Lynn (Anm. d. Redaktion: Sie brachte den Rammstein-Fall ins Rollen) im Bundestag geweint hat, man über einen Star berichtet, den man für mächtig hält, all das sagt erstmal nichts aus über die Qualität der Recherche und noch weniger über die Qualität des Podcasts aus", so das Jurymitglied. Man müsse zu dem Eindruck kommen, dass es der Podcast-Jury an kritischer Distanz fehle. Sie habe offenbar weniger die journalistische Qualität, sondern den erzeugten Effekt bewertet. "Sie hat ihren Job nicht gemacht", so das Jury-Mitglied weiter.
Dass der Standard des Reporterpreises eigentlich ein anderer ist, zeigt die Laudatio von Claus Kleber, Ex-Moderator des ZDF-heute-journals, für den besten Investigativtext. Er begann mit den Worten: "Das Jahr 2024 brachte einen Text, der alle anderen in den Schatten stellte, wenn man die Qualität einer Investigation an den Auswirkungen misst." Einige im Saal dachten, es werde nun die umstrittene Correctiv-Recherche zum Treffen in Potsdam prämiert, die Hunderttausende Menschen auf die Straße brachte. Doch Kleber fuhr fort mit: "Wir haben ihn am Ende nicht ausgewählt." Er sei eine große investigative Leistung, doch entscheidend sei, dass der Reporterpreis "keine Wirkung honoriert, sondern einen Text". Als Gewinner präsentierte Kleber die Zeit-Reportage "Hunger"“, die die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen dokumentiert. Kleber lobte den Text, weil er nicht "nach Effekten hascht", "keine Richtung verfolgt" und nichts "aufbausche".
Selbstbestätigung statt Selbstkritik
Die Auszeichnung des NDR-SZ-Podcasts "Rammstein – Row Zero" mit dem Reporter:innenpreis konterkariert hingegen den eigenen Anspruch des Reporterpreises "vorbildliche" Arbeiten auszuzeichnen.
Richtig ist, dass die Grenzen der zulässigen Verdachtsberichterstattung nicht einfach zu bestimmen sind und gerichtlich immer wieder ausgefochten werden. Dass die Podcast-Macher diese Grenzen verfehlt haben, bedeutet nicht, dass sie keine guten Journalisten sind. Im Gegenteil handelt es sich durchweg um in sensiblen Recherchen erfahrene und bereits in der Vergangenheit prämierte Journalisten. Sie aber ausgerechnet für ein Werk auszuzeichnen, das bei schwersten Verdächtigungen (Vergewaltigung, sexueller Übergriffe, Doping) einer gerichtlichen Überprüfung in keiner einzigen Folge standhält und dann auch noch die Rechtsstreitigkeiten als mutig hervorzuheben, schadet dem Ansehen des Preises und auch des Journalismus. Der hat und erfüllt die wichtige Aufgabe, in allen Bereichen der Gesellschaft – ob Politik, Wirtschaft, Kultur, Justiz und auch Medien – darauf zu achten, dass Recht und Regeln eingehalten werden. Diesen Anspruch dann für sich selbst außer Acht zu lassen, sich über rechtliche Prinzipien zu stellen, schadet der Glaubwürdigkeit.
Statt sich kritisch mit journalistischen Grenzen auseinanderzusetzen, ignoriert die Podcast-Jury nicht nur Gerichtsentscheidungen, Persönlichkeitsrechte und den Pressekodex, sondern feiert die Preisträger auch noch für vermeintliche juristische Standhaftigkeit – aller gerichtlichen Niederlagen zum Trotz.
* Version 15.12.24: Zahl der Jury-Mitglieder nach Absage angepasst.
Reporterpreis für NDR-SZ-Podcast über Till Lindemann: . In: Legal Tribune Online, 14.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56112 (abgerufen am: 18.01.2025 )
Infos zum Zitiervorschlag