Das Rechtssystem bewährt sich nicht nur in Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch in alltäglichen Urteilen und Rechtsstreitigkeiten in der Fläche. Warum es deshalb wichtig ist, dass Institutionen des Rechts einladender werden.
"Der Firnis der Zivilisation ist dünn und brüchig", das sagte der Historiker Wolfgang Benz vor wenigen Jahren, zurückblickend auf Jahrzehnte der intensiven Forschung zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und der politischen Bildung in Deutschland. Wie fragil ein Element der Zivilisation, nämlich der Rechtsstaat ist, zeigen Entwicklungen im Ausland, wo Politiker den Primat des Rechts über die Politik infrage stellen oder offen ignorieren. Auch in Ländern, die wir bisher als Leuchttürme der Demokratie ansahen, untergraben Regierungen gezielt richterliche Unabhängigkeit und rechtsstaatliche Verfahren. Aber wir müssen nicht nur in die Ferne schauen: In Deutschland gibt es Stimmen, die fordern, Gerichte sollten weniger Macht haben, um politische Gestaltungsspielräume zu erweitern. Gleichzeitig reklamieren politische Akteure, die demokratische Spielregeln verachten und politisch außerhalb unserer Anstandsregeln agieren, den Begriff des Rechtsstaats für sich.
Diese Entwicklungen treffen auf eine Gesellschaft, in der sich Menschen sichtbar von staatlichen Institutionen entfremdet haben. Zugleich wird die Freiheit, die das Recht gewährt, mitunter nur als individueller Vorteil begriffen, den es maximal auszureizen gilt. Was viele dabei oft vergessen: Der Rechtsstaat ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft, die unser aller Engagement braucht.
Warum sollten wir die Menschen, die am Rechtsstaat zweifeln oder die die Möglichkeiten, die das Recht bietet, nicht aktiv nutzen, davon überzeugen, Recht und Rechtsstaat zu vertrauen? Weil er mehr ist als eine juristische Konstruktion: Der Rechtsstaat sichert Freiheit, wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Viele Errungenschaften unseres Alltags – vom Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Verbraucherrechte bis zu Umweltstandards – sind das Ergebnis einer funktionierenden Rechtsordnung, in der Gesetze von der Legislative geschaffen und das Recht von Justiz und Rechtspflege angewendet und bisweilen auch fortgebildet, das heißt: weiterentwickelt wird. Wo Recht schwächelt oder ignoriert wird, leiden nicht die Starken, sondern die Schwachen zuerst. Und systemisch kann man vielleicht Menschen für ein demokratisches System auch dadurch wieder begeistern, wenn sie die Vorzüge und Vorteile eines funktionierenden Rechtssystems erkennen.
Recht schützt uns auch dort, wo wir es nicht wahrnehmen
Rechtsstaatlichkeit bedeutet nicht, dass es keine Fehler oder Überregulierung gibt. Aber es lohnt sich, daran zu erinnern, welche Alternativen es gäbe: Ein regelbasiertes System mag Kompromisse erfordern, doch eine Gesellschaft ohne klare Regeln wäre für viele ein Ort der Unsicherheit und Willkür.
Recht schützt uns auch dort, wo wir es nicht wahrnehmen. Es kann jedoch nur dann nachhaltig positiv wirken, wenn es erfahrbar ist. Der Zugang zum Recht muss deshalb für alle offenstehen. Das bedeutet dreierlei: Recht sollte erlebbar und sichtbarer werden. Der Zugang zum Recht ist nicht nur die große Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht. Er zeigt sich in der alltäglichen Rechtsanwendung: in den alltäglichen Fällen der Gerichte vor Ort, in Verhandlungen, die rechtskundig von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten begleitet werden und die auch Rechtsfrieden schaffen sowie in einer justizförmig arbeitenden Verwaltung, die nach Recht und Gesetz handelt, unparteiisch ist, Bürgerinnen und Bürger anhört, ihre Entscheidungen begründet und Möglichkeiten eröffnet, ihre Entscheidungen überprüfen zu lassen. Dieses Fundament müssen wir stärken. Gerichte, Anwaltschaft, Beratung- und Schlichtungsstellen sowie sonstige regulierte Rechtsdienstleister sollten sich als Teile eines Systems begreifen, die in unterschiedlichen Rollen dasselbe Ziel verfolgen: Menschen den Zugang zum Recht zu ermöglichen.
Nochmals: Zugang zum Recht hat nicht nur die Person, die bedeutende Entscheidungen vor obersten Gerichten erstreitet. Sondern Zugang zum Recht bedeutet vor allem, dass viele Menschen und Unternehmen von einem System profitieren, das täglich in vielen Einzelfällen Ansprüche durchzusetzen hilft und Rechtsfrieden schafft. Diese unspektakulären Entscheidungen von Untergerichten oder sogar die Lösungen, die Menschen mithilfe von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ohne die Einschaltung von Gerichten finden, sind es, die in der Summe zeigen, dass unser Rechtssystem funktioniert. Das ist ein bisschen so wie in der Gesundheitsversorgung: Natürlich brauchen wir weltbeste Medizin an spezialisierten Einrichtungen. Aber wir brauchen auch flächendeckende medizinische Versorgung vor Ort. Sonst kriegen wir ein System wie in den USA, wo es natürlich lauter Nobelpreisträgerinnen und -träger gibt, Menschen ohne gute Versicherung oder ausreichende Mittel aber schnell von der Gesundheitsversorgung abgeschnitten sind.
Institutionen des Rechts sollten einladender werden
Die Institutionen des Rechts sollten einladender werden: Gerichte, Anwaltschaft und Beratungsstellen sind nicht bloße Konfliktlöser. Sie sind zentrale Akteur:innen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sie sollten Schwellen abbauen und verstärkt auch digitale Zugänge schaffen und Menschen den Weg zum Recht erleichtern.
Und wir sollten Recht als gesellschaftliche Verantwortung begreifen: Die Arbeit an der Verwirklichung von Recht und Rechtsstaat ist kein Nischenthema, sondern eine Aufgabe der Mitte der Gesellschaft. Rechtsstaatlichkeit stärkt die wirtschaftliche Stabilität, schafft Gerechtigkeit und schützt Grundrechte.
Ist das Recht neutral? Nein, und es darf es auch nicht sein. Unser Rechtsstaat muss Partei ergreifen: für die Schwächeren in einer Auseinandersetzung, für diejenigen, die Schutz brauchen, für die Grundwerte, die unsere Demokratie tragen. Gerade darin liegt seine Stärke. Denn ein System, das nicht bloß Macht, sondern Werte schützt, ist nicht einfach verhandelbar. Jedes Grundrecht hat einen Kerngehalt, der bei aller Abwägung nicht weggewägt werden kann.
Die Auseinandersetzung um den Rechtsstaat ist keine abstrakte Debatte, sondern eine fundamentale Frage unseres Zusammenlebens. Wenn wir ihn nicht aktiv verteidigen, wird er brüchig. Deshalb muss die Verteidigung des Rechtsstaats Mainstream sein – und bleiben.
Dr. Cord Brügmann ist Direktor der Stiftung Forum Recht (Karlsruhe und Leipzig).
Warum es mehr Auseinandersetzung braucht: . In: Legal Tribune Online, 05.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56939 (abgerufen am: 24.05.2025 )
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