2024 war in der Welt des Rechts viel los. Wir wollen wissen: Was sind für Sie und Euch Urteil, Rechtsfrage, Stimme, Überraschung, Ärgernis des Jahres? Was war relevant, was kurios? Stimmen Sie ab und hören Sie nächste Woche die “LTO-Rechtslage”.
Wir suchen zusammen mit Ihnen die wichtigsten Rechts-Highlights des Jahres 2024. Lesen Sie jeweils unsere Nominierungsvorschläge und stimmen Sie dann ab! Im LTO-Podcast “Die Rechtslage” werden nächste Woche die Podcast-Hosts Christian Rath, Katharina Reisch, Markus Sehl, und Felix W. Zimmermann die Jura-Ereignisse des Jahres Revue passieren lassen und über die Ergebnisse diskutieren.
I. Die “Rechtsperson” des Jahres
Cum-Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker
- Es war vielleicht die Kündigung des Jahres. Die führende Staatsanwältin im Cum-Ex-Skandal Anne Brorhilker hatte gekündigt und richtete zu ihrem Ausstieg deutliche Worte an die Justiz. Den Kampf gegen die Finanzkriminalität wird sie aber weiterführen – nur nicht mehr an der Seite des Staates.
Kämpferin gegen sexualisierte Gewalt Gisèle Pelicot
- Ihr Ex-Mann hatte sie über Jahre hinweg immer wieder betäubt und vergewaltigt. In dem Mammutverfahren in Südfrankreich standen neben dem Hauptangeklagten 50 weitere Männer vor Gericht, ihr Ex-Mann hatte sie von den anderen Männer vergewaltigen lassen. Gisèle Pelicot entschloss sich, den grausamen Fall nicht hinter verschlossenen Türen verhandeln zu lassen, sie wollte ihn öffentlich machen. So wird sie zur Symbolfigur im Kampf gegen sexualisierte Gewalt. Ende des Jahres fiel das Strafurteil.
Kämpfer für Transparenz Arne Semsrott
- § 353d StGB bestraft die frühzeitige Veröffentlichung von Gerichtsbeschlüssen und ist damit ein Zitierhindernis für Journalisten. Das LG Berlin I hält die Vorschrift für verfassungskonform und bestraft FragdenStaat-Chef Arne Semsrott. Dieser hatte die Anklage gegen sich bewusst provoziert und strebt eine Überprüfung der Norm durch das BVerfG an.
Die Natur als "Person" vor Gericht
- Flüsse und Wälder vor Gericht – was in anderen Rechtsordnungen längst Realität ist, kommt auch nach Deutschland. In zwei Urteilen hat das Landgericht (LG) Erfurt die Natur zum Rechtssubjekt erklärt und ihr eigene Rechte zuerkannt. Eine gute oder eine schlechte Idee aus dem Zivilrecht?
"Anzeigehauptmeister" Niclas
- Der “Anzeigehauptmeister” Niclas sorgte als jugendlicher Enthusiatst mit einem ungewöhnlichen Hobby für Schlagzeilen. Der 18-Jährige wollte, in jeder deutschen Stadt und Gemeinde mindestens einen Falschparker anzeigen. Doch ist das, was Niclas tut, wirklich legal und müssen Behörden seine Massenanzeigen überhaupt bearbeiten?
II. Die Rechtsfrage des Jahres
AfD-Verbotsverfahren?
- Die Diskussion um ein Parteiverbot der AfD hat das Jahr 2024 geprägt. Verfassungsrechtler schätzen die Erfolgsaussichten und Konsequenzen eines Verbotsantrags beim BVerfG unterschiedlich ein. Mittlerweile liegt ein Vorschlag für einen Verbotsantrag im Bundestag.
BVerfG im Grundgesetz schützen?
- Über das Jahr hinweg wurde darüber diskutiert, wie die wesentlichsten Verfahrensregeln für die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts gegen zukünftige Bedrohungen gesichert werden kann. In den letzten Tagen des Jahres und der Ampel-Legislatur wurde eine Grundgesetzänderung verabschiedet.
Compact-Verbot?
- Kann man so ein Medium verbieten? Das rechtsextreme Compact-Magazin hat sich mit Erfolg gegen das Verbot durch das Bundesinnenministerium gewehrt. In einem Eilverfahren entschied das BVerwG, es darf erst einmal weitermachen. Im Januar kommt es zum Hauptsacheprozess.
Sylt-Gegröle strafbar?
- Ein Video, in dem junge Menschen auf Sylt rassistische Parolen grölen, löste im Frühsommer bundesweit Empörung aus. Was war strafbar und welche Folgen hatte die Verbreitung des Videos?
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu?
- Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle unter anderem gegen Israels Ministerpräsidenten Netanjahu erlassen. Israels Regierungschef soll also vor Gericht gestellt werden. Für Deutschland wird das zur politischen Zwickmühle. Stellt der Schritt das Völkerrecht vor eine neue Bewährungsprobe?
Fast-Lanes strafbar?
- Sind die Überholspuren für Premium-Passagiere an den Sicherheitskontrollen deutscher Flughäfen zulässig oder sogar strafbar. Die Diskussion spaltete die Jura-Welt im Frühjahr (Lesen Sie hier, hier und hier).
Wer haftet für Füllkrugs Fehlschuss?
- Stimmt, dieses Jahr war auch Fussball-EM in Deutschland. Noch vor dem ersten EM-Spiel der deutschen Auswahl hatte Stürmer Niclas Füllkrug einem Fan durch einen verfehlten Schuss die Hand gebrochen. Haftet der Nationalspieler oder die UEFA auf Schadensersatz?
III. Das bedeutendste Urteil des Jahres
Wahlrechtsurteil des BVerfG
- Beispielloses Leak beim BVerfG: Sein Wahlrechtsurteil kursierte schon am Tag vor der Verkündung im Netz. Darin befand es weite Teile des neuen Wahlrechts für verfassungskonform. Der kleinere Bundestag kommt. Nur eine Fünf-Prozent-Hürde ohne Grundmandatsklausel ist verfassungswidrig, entschied das Verfassungsgericht.
99-jährige KZ-Sekretärin verurteilt
- Die heute 99-jährige war die einzige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof. Jeder Schriftverkehr zur Organisation und Durchführung des industriellen Massenmordes ging über ihren Schreibtisch. Damit leistete sie Beihilfe zum zehntausendfachen Mord, entschied der BGH 2024.
Frage nach “wirklicher” Herkunft ist rassistisch
- Ein Polizist fragt einen Mann bei einer Verkehrskontrolle, woher er komme. “Aus Bochum” genügte dem Polizisten nicht. Er fragte weiter, woher der Mann “wirklich” komme. Das ist eine Diskriminierung im Sinne des Berliner Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG), entschied 2024 das Amtsgericht Berlin-Mitte und sprach dem Mann eine Entschädigung zu.
Erfolgreiche EGMR-Klage der Klimaseniorinnen
- “Historisch”, “sensationell”, “bahnbrechend” - für dieses Urteil schien 2024 kein Wort zu groß. Die Schweizer Klimaseniorinnen gewannen nämlich die erste Klimaklage vor dem EGMR. Der stellte fest, dass sich die Schweiz stärker um einen wirksamen Klimaschutz bemühen muss.
NPD-Finanzierungsausschluss
- Die NPD ist seit 2024 von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Das entschied das BVerfG im ersten Finanzierungsausschlussverfahren nach Art. 21 Abs. 3 GG. Ein Urteil, das auch Konsequenzen für mögliche Verfahren gegen die AfD haben könnte.
IV. Das kurioseste Urteil des Jahres
Referendariats-Verbot und trotzdem Anwalt
- Wegen langjähriger verfassungsfeindlicher Betätigung durfte ein Juraabsolvent und Funktionär der Neonazi-Partei III. Weg in Bayern nicht ins Referendariat. Zu Recht, entschied das BVerwG. Das Urteil kam dennoch zu spät. Der Rechtsextremist absolvierte einfach in Sachsen das Referendariat und ist inzwischen Rechtsanwalt.
"Reichsbürger"-Theater vorm Amtsgericht
- Strafbefehl, Einspruch, Hauptverhandlung: Soweit nichts Ungewöhnliches. Doch wenn der Angeklagte gar nicht Angeklagter sein will und kein "Mandat des Staates" hat, dann wird es schwierig. Das AG Mönchengladbach-Rheydt musste diesen Fall schließlich pragmatisch lösen.
Rechtsstreit um Mopshund “Edda”
- Ein gepfändeter Hund, der schlechte Augen hat, machte sogar international Schlagzeilen. 2024 ging der juristische Streit vor dem OLG Hamm voraussichtlich endgültig zu Ende – dabei erscheint vieles an dem Fall vor allem auch traurig.
Süße Minischweine müssen weg
- Eine Sauerei im Bauplanungsrecht: Ein Ehepaar aus Haßloch, dem “größten Dorf von Rheinland Pfalz” darf keine süßen Minischweine im Garten halten. Das VG Neustadt an der Weinstraße entschied, dass Minischweine keine Kleintiere sind und daher in Wohngebieten nicht erlaubt sind - egal wie dörflich dessen Charakter ist.
“Dem BGH kann nicht gefolgt werden”
- Das Amtsgericht Aschersleben entschied, dass die Grenze für eine "nicht geringe Menge" des Cannabis-Wirkstoffs THC bei 37,5 Gramm liegt, und stellt sich damit ausdrücklich gegen den BGH der diese Grenze bei 7,5 Gramm ansetzt. Das Gericht begründete dies mit einer veränderten Risikobewertung im neuen Cannabisgesetz und der Bedeutung der Gesetzesbegründung für die richterliche Auslegung begründet.
V. Das Gesetz des Jahres
Gebäudeenergiegesetz
- Es war eines der umstrittensten Gesetze der letzten Jahre: Das Gebäudeenergiegesetz (EEG), oder auch “Heizungsgesetz”. Seit 2024 ist es in Kraft. Nun müssen Heizungen von Neubauten in Neubaugebieten zu mindestens 65 % mit erneuerbaren Energien betrieben werden.
Grundgesetzänderung für Resilienz des BVerfG
- Auf den letzten Metern der Legislatur wurde die Grundgesetzänderung zum Schutz des BVerfG verabschiedet. Die Reform verankert wichtige Regelungen zum Status und zur Arbeitsweise des Verfassungsgerichts im Grundgesetz. So soll verhindert werden, dass autoritäre Kräfte das BVerfG für ihre Zwecke kapern.
KI-Verordnung (AI-Act)
- Künstliche Intelligenz (KI) war 2024 Alltag in Deutschland. Sie wurde geliebt, gefürchtet und: reguliert. Im August trat die KI-Verordnung der EU in Kraft. Sie soll vor Gefahren schützen und zugleich das wirtschaftliche Potenzial der Technologie fördern.
Selbstbestimmungsgesetz
- Das Transsexuellengesetz ist Geschichte. Für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen ist nun Schluss mit bürokratischen Hürden und teuren, entwürdigenden Prozessen. Sie können seit Inkrafttreten des neuen Selbstbestimmungsgesetzes ihren Vornamen und Geschlechtseintrag einfach mit einer Erklärung beim Standesamt ändern lassen.
Cannabisgesetz
- Das politische Hauen und Stechen beim Thema Cannabis fand 2024 vorerst ein Ende: MIt dem Cannabisgesetz (CanG) trat im April eine Teil-Legalisierung von Cannabis in Kraft. Erwachsene dürfen Cannabis nun legal besitzen und konsumieren.
Umsetzung EU-einheitliches Ladekabel
- Endlich. Der Kabelsalat hat ein Ende: Seit 2024 ist USB-C das Standard-Ladekabel für alle elektronischen Kleingeräte wie Handys und Tablets. Ab 2026 gilt das auch für Laptops. Das regelt das Gesetz zur Änderung des Funkanlagengesetzes, das die EU-Funkanlagen-Richtlinie von 2022 umsetzt.
VI. Das juristische Ärgernis des Jahres
Vertrauensfrage und Ampel-Aus
- Es ist das Unwort des Jahres 2024: Ampel-Aus. Die Ampel-Koalition hat sich um die Wirtschafts- und Haushaltspolitik zerstritten. Bundeskanzler Olaf Scholz verliert, wie erwartet, die Vertrauensfrage im Bundestag. Im März 2025 wird neu gewählt. Viele rechtspolitische Projekte fallen nun dem Zeitablauf zum Opfer und werden nicht mehr umgesetzt.
Forderung nach Zurückweisung an deutschen Grenzen
- Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz forderte im September von der Bundesregierung, Geflüchtete an deutschen Grenzen zurückzuweisen - und damit die Missachtung von EU-Recht.
Fotofahndung im Internet
- Die Polizei sollte Verdächtige, Zeugen und Opfer von Straftaten mithilfe von Internetfotos identifizieren sowie ihren Aufenthaltsort und Bewegungen feststellen können. Klingt nach George Orwell, stand aber tatsächlich in einem Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium. Wie das verfassungskonform funktionieren soll? Man weiß es nicht.
Petition für Grundrechtsverwirkung von Björn Höcke
- "Wehrhafte Demokratie: Höcke stoppen" verlangt die von 1,7 Millionen Menschen unterzeichnete Online-Petition, die 2024 den Bundestag erreichte. Ihr Anliegen: Die Bundesregierung sollte beim BVerfG beantragen, dem Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke nach Art. 18 GG seine Grundrechte zu entziehen. Dabei raus kam bislang: nichts.
Auslieferung Maja T.
- Der Fall sei “beschämend für einen Rechtsstaat”, fand nicht nur der Anwalt von Maja T - einer non-binären Person, die 2024 im Eilverfahren nach Ungarn ausgeliefert wurde. Das BVerfG erließ wegen der ungarischen Haftbedingungen eine einstweilige Anordnung gegen die Auslieferung. Die kam aber zu spät. Effektiven Rechtsschutz gab es für Maja T. nicht.
DANKE fürs Mitmachen und viel Spaß bei der nächsten Folge der LTO-Rechtslage am 27.12.2024 mit unserem Jahresrückblick. Überall, wo es Podcasts gibt
LTO-Jahresrückblick: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56169 (abgerufen am: 12.02.2025 )
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