Obwohl das BVerfG bei schweren Straftaten einen Strafverfolgungsanspruch gegenüber der deutschen Justiz anerkennt, wird die Strafverfolgung von US-Soldaten dem US-Militär überlassen. So kann das nicht weitergehen, meint Felix W. Zimmermann.
Der Fall Wittlich hat mit seinem Justizversagen auf allen Ebenen, insbesondere aber auf Seiten des US-Militärs, in aller Deutlichkeit offengelegt: Deutschland darf die Strafverfolgung bei schwersten Straftaten auf deutschem Boden nicht mehr reflexhaft an die US-Militärgerichtsbarkeit abgeben, wenn US-Soldaten beschuldigt werden. Nicht nur, weil es immer wieder zweifelhafte Entscheidungen von US-Militärgerichten gibt. Nicht nur, weil im Fall Wittlich ein Geständnis des Tatverdächtigen der Jury aus unplausiblen Gründen vorenthalten wurde. Nicht nur, weil das US-Militärgericht in Spangdahlem Geheimjustiz ausübt und seine Beschlüsse nicht veröffentlicht. Sondern, weil es das Verfassungsrecht verlangt. Spätestens seit dem Gorch-Fock-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Oktober 2014 (2 BvR 1568/12) steht fest, dass der Staat in Fällen schwerer Kriminalität auch eine grundrechtliche Schutzpflicht gegenüber den Angehörigen des Opfers hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich klargestellt, dass die Hinterbliebenen von Opfern schwerer Straftaten aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) einen Anspruch auf eine wirksame Strafverfolgung gegenüber der deutschen Justiz haben. Dieser Strafverfolgungsanspruch ist keine bloße politische Erwartungshaltung, sondern ein einklagbares Grundrecht. Es liegt auf der Hand, dass jede Regelung, die bei schweren Straftaten einem ausländischen Staat die Strafverfolgung pauschal überlässt, diesen verfassungsmäßigen Anspruch nicht gerecht wird – zumal die USA nicht an deutsche Grundrechte gebunden sind.
In der aktuellen Folge des Podcast "Mordlust" besprechen LTO-Chefredakteur Felix. W. Zimmermann zusammen mit Podcast-Hostin Paulina Krasa den Fall Wittlich unter dem Titel "Das fatale Abkommen".
NATO-Truppenstatut ist nicht das Problem, sondern die gelebte Praxis
Dabei sind das NATO-Truppenstatut und sein Zusatzabkommen, wonach in der Regel die US-Militärs ermitteln, weniger das Problem. Die Verträge sehen ausdrücklich vor, dass die deutschen Behörden ermitteln können, wenn die deutsche Strafrechtspflege dies erfordert, und nennen explizit Tötungsdelikte als Beispiele – sofern die Tatopfer keine US-Militärangehörigen sind. Problematisch ist vielmehr die gelebte Praxis, wonach der Verzicht auf die deutsche Strafverfolgung nicht nur bei Verkehrsdelikten zur Regel gemacht wurde.
Dazu tragen auch Verwaltungsvorschriften bei, wie etwa die aus Rheinland-Pfalz. Sie machen es den Staatsanwaltschaften faktisch unmöglich, Argumente für die eigene Übernahme eines Falles geltend zu machen. Denn danach kommen deutsche Ermittlungen selbst bei schwersten Straftaten nur in Betracht, wenn nach "menschlichem und juristischem Ermessen hinreichende Aussicht besteht", dass das US-Militär den Fall nicht zufriedenstellend behandelt. Eine solche Zukunftsprognose, ob im konkreten Fall ordentlich und zeitnah ermittelt wird, ist jedoch Staatsanwälten mangels hellseherischer Fähigkeiten unmöglich. Sie wissen ja nicht einmal, wer Richter und wer Ankläger sein oder wie die Jury besetzt sein wird. Wollen sie gleichwohl ermitteln, müssen sie jedenfalls in Rheinland-Pfalz zudem die Zustimmung des Landesjustizministeriums einholen und können dort letztlich nur allgemeine Zweifel an der US-Militärgerichtsbarkeit vorbringen. Doch das Ministerium sorgt sich gerade um diplomatische Krisen mit den USA, die ausgelöst würden, wenn das Land dem Militärgericht kein Vertrauen schenkt.
Dies zeigt: Es bedarf erstens einer neuen Verwaltungsvorschrift, die zur Regel macht, dass bei schweren Straftaten gegen Bürger in Deutschland die deutsche Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln und die zweitens gewährleistet, dass Staatsanwaltschaften autonom von Ministerien über die Übernahme der Fälle entscheiden können, damit diese unabhängig von diplomatische Bedenken handlungsfähig sind. Deutsche Rechtsstaatlichkeit darf nicht unter den Vorbehalt von guten Beziehungen zu den USA gestellt werden.
Schlechter Ruf bestätigt sich immer wieder
Die US-Militärgerichtsbarkeit gilt selbst in den USA nicht unbedingt als Hort rechtsstaatlicher Exzellenz. Sicherlich werden überwiegend ordnungsgemäße Prozessführung nach rechtsstaatlichen Prinzipien geführt. Doch Wissenschaftler und Menschenrechtsorganisationen üben regelmäßig scharfe Kritik an den Verfahren, die oft von Intransparenz, mangelnder Unabhängigkeit und einer institutionellen Parteinahme zugunsten der Angeklagten aus den eigenen Streitkräften geprägt sind. Dies belegt nicht nur ein Blick in die Geschichte. Die Geheimhaltung des Beweismittelbeschlusses im Fall Wittlich, die ausbleibende Ladung einer entscheidenden Zeugin und die offenbar stümperhafte Belehrung des Angeklagten durch die US-Ermittler selbst haben diesen Zweifeln erneut Nahrung gegeben.
Der deutsche Rechtsstaat hat sich in Jahrzehnten harter Arbeit das Vertrauen seiner Bürger verdient und genießt es – trotz politischer Krisen – weiterhin. Dieses Vertrauen darf nicht verspielt werden, auch nicht punktuell, indem der Staat die Verfolgung schwerer Straftaten pauschal an eine fremde Militärmacht übergibt.
• Lesen Sie zu dem Thema auch den ausführlichen Hintergrundbericht von Felix W. Zimmermann unter dem Titel “Freispruch trotz Geständnis: Justizversagen auf allen Ebenen”.
Der Fall Wittlich und das NATO-Truppenstatut: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56723 (abgerufen am: 18.05.2025 )
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