Eine Frage an Thomas Fischer: Hat die Justiz im Aschaf­fen­burg-Fall ver­sagt?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

29.01.2025

Nach dem Messerangriff von Aschaffenburg wird im Wahlkampf über Schlussfolgerungen und Maßnahmen gestritten. Wann ist eigentlich das "Maß voll", kann man "zu kriminell sein für das Gefängnis" und hat die Justiz versagt, Thomas Fischer?

Unter dem Schlagwort "Messer-Killer von Aschaffenburg" und der Schlagzeile "Afghane saß nicht im Knast, weil er ZU KRIMINELL war" (Großschreibung im Original) beschäftigte sich am 24. Januar 2025 die Bild-Zeitung zum wiederholten Mal mit dem seit 22. Januar in den Medien allgegenwärtigen Tötungsdelikt in Aschaffenburg. Bei dem soll ein aus Afghanistan stammender, psychisch kranker Mann einen zweijährigen Jungen und einen Mann getötet und drei Personen verletzt haben. Am objektiven Tathergang bestehen, soweit ersichtlich, wenig Zweifel. Die unsinnige Schlagzeile "zu kriminell" bezog sich, soweit ersichtlich, auf die Notwendigkeit der Bildung einer nachträglichen Gesamt(Geld-)Strafe vor der möglichen Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe.  

Die Schuld bei dem Aschaffenburger Messerangriff ist fraglich, weil der Mann bei der Tatbegehung möglicherweise schuldunfähig im Sinne von § 20 StGB gewesen ist. Das ist die Vorschrift, auf welche sich 75 Prozent der deutschen Beschuldigten von Tötungsdelikten in folgenden drei Varianten berufen:  

  • "Ich wusste nicht, was ich tat";
  • "… da habe ich rot gesehen", und
  • "als ich wieder zu mir kam, hatte ich das Messer in der Hand und er/sie lag vor mir".

Grundlage dieser kreativen Einlassung ist in der Mehrzahl der Fälle eine festgestellte Blutalkoholkonzentration zwischen 2,0 und 4,0 Promille oder die nachträgliche Behauptung einer entsprechenden Trinkmenge, gern auch in Kombination mit allerlei anderen hemmungszerstörenden Substanzen. Diese Fallgruppe soll hier nicht weiter interessieren.

In einer kleineren, in sich hochindividuell unterschiedenen Gruppe von Beschuldigten beruht die Frage nach der Schuldfähigkeit auf psychischen Erkrankungen – meist auf der Diagnose einer Schizophrenie oder einer "schweren seelischen Störung". Beide Diagnosen haben eine Vielzahl von unterschiedlichen Formen und Ausprägungen. Vereinfacht: Die Diagnose "Schizophrenie" ist etwa so präzise wie der Befund "Krebs", und die Diagnose "schwere Persönlichkeitsstörung" so erhellend wie "Infektion".  

Ich erwähne dies, weil "der Afghane" von Aschaffenburg – der mutmaßliche Täter – inzwischen vom Ermittlungsrichter des zuständigen Amtsgerichts gem. § 126a StPO "einstweilig untergebracht" wurde, weil "dringende Gründe für die Annahme vorhanden (sind), dass (er) eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 des Strafgesetzbuches) begangen hat". Die Unterbringung ist das Gegenstück zur Untersuchungshaft. Bild hat uns versichert, "der Afghane" sei im Bezirkskrankenhaus (BKH) Lohr "hoch gesichert". Diese Feststellung steht in faszinierendem Widerspruch zur üblich verbreiteten Mär vom hochgefährlichen "Wohlfühl"-Vollzug.  

"Zu kriminell" für die Strafvollstreckung? 

Die eingangs zitierte Schlagzeile der "Bild"-Zeitung suggerierte mindestens zweierlei: Zum einen, "die Justiz" habe (einmal mehr) "versagt", weil gesetzliche Regelungen oder praktische Umstände daran "schuld" seien, dass der mutmaßliche Täter sich zum Zeitpunkt der Tat nicht im Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB) befand. Zum anderen, dass ein "Übermaß" an krimineller Energie und Praxis einer Person diese begünstige und weitere (ggf. schwere) Straftaten ermögliche.  

Beide Unterstellungen liegen neben der Sache. Im konkreten Fall war, soweit bekannt, der Vollzug einer (sehr kurzen) Ersatzfreiheitsstrafe aufgeschoben worden, weil aufgrund einer weiteren (nicht bezahlten) geringfügigen Geldstrafe nachträglich eine "Gesamt(geld)strafe" gebildet werden musste. Das ergibt sich aus § 55 StGB und ist kein "Versagen" der Justiz, sondern die gesetzliche Regel, die täglich hundertfach umgesetzt wird.  

Ob man möglicherweise die erste Ersatzfreiheitsstrafe schon hätte vollstrecken können/sollen, ist eine Frage, die sich zwar in der Rückschau ("hinterher ist man immer schlauer") diskutieren kann, die aber in der justiziellen und Lebens-Praxis keine Rolle spielt. Bei ausnahmslos jeder schweren Gewalt-Tat (und bei jedem Schadensereignis überhaupt) kann man im Nachhinein darüber spekulieren, was vielleicht geschehen wäre, wenn wer wann was getan oder unterlassen hätte.  

Anders gesagt: Ein jeder Gewalttäter hätte, wenn man vor seiner Tat gewusst hätte, was man nach der Tat weiß, festgenommen, eingesperrt oder sonst wie an der Tat gehindert werden können. Das ist aber kein "Versagen" der Justiz oder des Gesetzes, sondern Konsequenz der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit des lebensweltlichen Geschehens. Dass die Verzögerung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 30 Tagen für eine nicht bezahlte Geldstrafe wegen eines eher bagatellhaften Delikts dazu führt, dass der Verurteilte während der hypothetischen Vollzugsdauer ein Verbrechen des Mordes begeht, ist nach aller Erfahrung fernliegend. Dies gilt auch angesichts der hier liegenden Besonderheit, dass diese Vortaten als Aggressionsdelikte einzustufen waren. In Deutschland werden wöchentlich viele tausende Geldstrafen wegen "kleinerer" Aggressionsdelikte verhängt, Ersatzfreiheitsstrafen angeordnet und vollstreckt (oder auch nicht). Ob der Beschuldigte die Geldstrafe von 30 Tagessätzen vor oder nach Beginn der Vollstreckung der Ersatzstrafe bezahlt hätte (und daher sogleich freizulassen gewesen wäre), weiß man nicht. Die zitierte "Bild"-Schlagzeile ist daher insgesamt Ausdruck eines klassischen "Rückschaufehlers", verpackt in die polemische Suggestion eines angeblich gravierenden "Versagens".

Das volle Maß

Friedrich Merz*, Kanzlerkandidat im Wahl-"Kampf"-Modus, sagte zu dem Verbrechen von Aschaffenburg inzwischen viel. Am Anfang aber war sein Wort: "Das Maß ist end-gültig voll."

Diesen Satz kennen 99 Prozent der Menschen, welche der deutschen Sprache mächtig sind, aus diversen pädagogischen Zusammenhängen von Kindesbeinen an, mal sie selbst betreffend, mal Dritte. Er bedeutet: Das "Konto" des objektiv Tolerablen und / oder subjektiv zu Verantwortenden ist so "voll", dass der jeweils Sprechende von außen  die Insolvenz erklären muss. "Das Maß ist endgültig voll" ist eine schillernde Mischung aus "Michel aus Lönneberga (Arnsberg)", "Seit-fünf-uhr-fünfundvierzig-wird-zurückgeschossen" und der Schießerei am O.K. Corral. Das soll keine Gleichsetzung von irgendwem mit irgendwem sein, sondern eine Umschreibung des (beabsichtigten) Bedeutungschaos.  

Das Zauberwort des Vorstehenden ist das des "Kontos". Wie jedermann weiß, werden Geld-, Schuld-, Verantwortungs- oder Arbeitszeitkonten, wenn sie seriös sind, stets individuell – für eine einzelne natürlich oder juristische Person – geführt. Andersherum formuliert: Es gibt keine "Konten", welche die Kontoführungsinstitute Weltgeschichte, Deutschland oder Friedrich Merz für die Kontoinhaber "die Russen", "die Afghanen", "die Moslems/Juden/Hindus" oder "die Migranten" führen oder führen dürfen. Wer solche Konten zu führen behauptet, ist nicht nur im Irrtum, sondern stellt sich auch außerhalb rationaler Argumentation.  

Wer sagt "Das Maß ist endgültig voll", muss als nächstes unbedingt dazusagen, wessen "Maß" gemeint ist. Richtet man diese Frage hypothetisch an Merz, fällt die Antwort nicht ganz leicht: Das Maß der Afghanen? Das der Migranten? Das der Ausländer oder der Migrationshintergründler? Da es beim vollen oder leeren Maß offenkundig um Schuld und Verantwortung geht, muss man überdies auch sagen, welches "Maß" gemeint ist, welches Kriterium (Maßeinheit) man zugrunde legt und welches die Maß-Stäbe des Messens sind. Ich bitte um Verzeihung dafür, wenn dies ein wenig abstrakt klingt. Strukturell unterscheidet sich die Anforderung aber nicht von derjenigen an die Erwägung, nach vier verlorenen Pflichtspielen des BVB sei das Maß voll gewesen.  

Die ganze Härte

In Deutschland wurden im Jahr 2023 etwa 5,5 Millionen Straftaten angezeigt. Darunter waren etwa 2.300 vollendete und versuchte Tötungsdelikte (Totschlag und Mord). Unter den Verdächtigen vollendeter Tötungsdelikte waren 534 Männer und 119 Frauen. 40 Prozent der Mordverdächtigen und 26 Prozent der Totschlagsverdächtigen waren Ausländer. Von den Opfern vollendeter Mordverbrechen (insg. 299) waren 191 Deutsche und 108 Ausländer (36 Prozent). Von den Totschlagsopfern (insg. 359) waren 258 Deutsche und 101 Ausländer (28 Prozent).  

In Deutschland sind derzeit – grob geschätzt – etwa 13.000 Menschen im so genannten Maßregelvollzug (§§ 63, 64, 66 StGB) untergebracht. Die Mehrzahl davon wegen mit einer Straftat zusammenhängenden Substanzabhängigkeit in einer „Entziehungsanstalt“ (§ 64 StGB) für eine vorübergehende Zeit (max. zwei Jahre), eine Minderheit in der sog. Sicherungsverwahrung (§ 66 ff. StGB). Die mittlere Gruppe, die viele tausend Personen umfasst, ist nach § 63 StGB in forensischen Krankenhäusern des Maßregelvollzugs – grundsätzlich ohne zeitliche Befristung – untergebracht, teils zur "Behandlung", teils zur "Sicherung", zu oft zur schlichten Verwahrung.  

Mir ist derzeit keine Statistik darüber bekannt, wie viele nach § 63 StGB Untergebrachte Tötungsdelikte begangen haben, welcher Nationalität oder ethnischen Bevölkerungsgruppe sie angehören und aufgrund welcher Diagnosen sie untergebracht sind. Bei den für den Vollzug zuständigen Landesbehörden liegen solche Statistiken vor. Ihre Kenntnis wäre erforderlich, um beurteilen zu können, ob und wenn ja welches "Maß" durch die Tat von Aschaffenburg "endgültig überschritten" worden sein könnte. Es spricht sehr viel dafür, dass sie weder dem Wahlkämpfer Merz geläufig sind, noch dass derlei Differenzierungen weder Ziel oder Hintergrund der aktuellen Debatte sind.  

Der sogenannte "Killer von Aschaffenburg" ist vielmehr in seiner individuellen Person, entgegen aller Schuldzuweisungen wegen angeblichen oder tatsächlichen "Versagens" von Behörden, gar nicht im Fokus der Betrachtung; er wird vielmehr wie seine Opfer nur instrumentalisiert.  

Wenn der Beschuldigte psychisch krank ist und bei der Tat schuldunfähig gewesen sein sollte, kann sich das Merz'sche "Das Maß ist voll" schon per se nicht gegen ihn richten. Die "am ersten Tag der Kanzlerschaft" per "Richtlinienkompetenz" (Art. 65 Satz 1 Grundgesetz) angekündigten Weisungen zur Schließung der deutschen Grenzen innerhalb des Schengen-Raums kann ja auch schwerlich dem Zweck dienen, geisteskranke Ausländer im Allgemeinen am Betreten der Bundesrepublik zu hindern. Die Bundespolizei betreibt keine psychiatrischen Diagnosezentren.  

Vielmehr geht es, wie allgemein bekannt ist, um die Auffindung und Abweisung "illegaler Migranten". Dies wiederum steht in ungeklärtem Widerspruch zu dem Ziel, die deutsche Bevölkerung (71,6 Mio. Deutsche, 12,9 Mio. Nichtdeutsche) vor geisteskranken oder potenziell kriminellen Ausländern zu schützen. Denn solche potenziell gefährlichen Personen sind selbstverständlich keineswegs nur "illegale Migranten".  

Die Mehrheit  

Der Begriff des "illegalen Migranten" ist seinerseits nur ein Platzhalter. Die angeblich mehr als 60 Prozent der Bevölkerung, die den Merz-Plan mehr oder weniger gutheißen sollen, wären ja mit "legalen Migranten" im Grundsatz ebenso wenig einverstanden wie mit "illegalen". Sie wollen nicht die Illegalität der Migration bekämpfen, sondern die Migration als solche – nicht „das Maß“ ist nach ihrer Ansicht voll, sondern das Boot.  

Furcht vor dem und/oder den Fremden ist kein moralisch-soziales Versagen, wie lehrmeisterliche Großsprecher aus Parteien, Kirchen, Verbänden, Sozial-Wissenschaften und Journalismus der Mehrheit der Bevölkerung mittels "haltungs"-beseelter Kommunikation einzureden versuchen. Sie ist vielmehr sowohl „normal“ als auch verständlich, zugleich kompliziert und konfliktfördernd.  

Die "Schließung der deutschen Außengrenzen", welche – weil "das Maß voll sei" – inzwischen die Wahlkämpfer (fast) jeder Couleur als angebliches Ziel propagieren, ist, wie jedermann weiß, eine letztlich recht hohle Floskel: Weder rechtlich noch faktisch geht das, wenn Deutschland nicht das neue Nordkorea werden oder sich zumindest wieder in den DDR-Modus begeben möchte. Die Berufung auf Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ("Dieser Titel berührt nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit") ist ein tönernes Füßchen für die (einseitige) Einführung dauerhafter Grenzkontrollen, und Art. 2 und 3 der EMRK stehen undifferenzierten Massenabschiebungen entgegen.  

Das wissen auch die potenziellen Wähler des Kandidaten Merz. Deshalb wählen sie ihn trotz seiner rührenden Trump-Imitation "Am ersten Tag meiner Kanzlerschaft…". Die es vermutlich wirklich ernst meinen mit dem Mauerbau, wählen sowieso die AfD. Deren Programm ließe sich freilich nur umsetzen, wenn, mit Björn H. formuliert, "Europa sterben muss". Die aufgeregte Debatte um die "Brandmauer" übertönt inzwischen diejenige über die inhaltlichen Ziele. Alle gemeinsam singen im Chor das Lied von der illegalen Migration, die es zu "bekämpfen" gelte. Tatsächlich dürfte nicht Deutschland auf dem Spiel stehen, sondern Europa. Da freut sich der Rechtsradikale.

* Anm. d. Red.: An dieser wurde Friedrich Merz zunächst fälschlicherweise ein Doktortitel zugeschrieben. Korrigiert am 30.01.2025, 17:32 Uhr

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 29.01.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56464 (abgerufen am: 11.02.2025 )

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