Eine Frage an Thomas Fischer: Soll Cannabis lega­li­siert werden?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

24.08.2023

Das Bundeskabinett hat den Entwurf eines Gesetzes zur Teillegalisierung des Cannabiskonsums verabschiedet. Die öffentlich dargestellte Aufregung ist ein weiteres Mal groß. Was hält Thomas Fischer davon?

Aufreger

Am 16. August hat das Bundeskabinett den federführend vom Bundesgesundheitsministerium erstellten Entwurf eines Gesetzes zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften – Cannabisgesetz – verabschiedet. Der 183 Seiten lange Entwurf sieht die Einführung eines Konsumcannabisgesetzes (KCanG) sowie eines Medizinal-Cannabisgesetzes (MedCanG) vor, überdies Änderungen an acht weiteren Gesetzen und vier Verordnungen.

Das zentrale Anliegen ist in § 2 Abs. 3 KCanG des GesE geregelt: Das allgemeine Verbot des Umgangs mit Cannabis (Besitzen, Erwerben, Sichverschaffen, Anbauen, Handeltreiben usw.) gilt danach nicht für den Besitz nach § 3 (bis zu 25 Gramm zum Eigenkonsum und drei Pflanzen im Wohnbereich), den privaten Anbau von drei Pflanzen (§ 9) sowie den gemeinschaftlichen Eigenanbau in Vereinen nach Maßgabe der §§ 11 ff.), jeweils für Personen ab Vollendung des 18. Lebensjahres. Ergänzt ist das durch umfangreiche Regelungen über Konsum- und Umgangsbeschränkungen, Erlaubnis- und Widerrufsvorschriften, Gesundheits- und Suchtpräventionsmaßnahmen. Das strafbewehrte Verbot der Abgabe an Minderjährige bleibt bestehen. § 34 KCanG-E enthält eine Vielzahl an Strafvorschriften.

Was man nicht mehr in dieser Vehemenz vermutet hätte, war die mediale und politische Aufregung, die der Kabinettsvorlage vorausging und nachfolgte. Bereits in den Wochen vor dem 16. August häuften sich öffentliche Stellungnahmen von Kritikern aller Fachrichtungen, namentlich mit der Warnung vor den schädlichen Folgen des Cannabiskonsums für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.

In den Medien erschienen gehäuft dramatische Berichte von Psychiatern über gravierende Schäden infolge Cannabiskonsums, namentlich schwere Depressionen und THC-induzierte Wahnerkrankungen bei Jugendlichen und Heranwachsenden. Der Höhepunkt war erreicht, als am Tag nach der Verabschiedung des Entwurfs im Kabinett beispielsweise in der FAZ sage und schreibe sieben Artikel zum Thema erschienen, vom ganzseitigen Überblick bis zum untergangsgestimmten Kommentar. Abgeordnete aus Regierungsfraktionen beeilten sich, ihre Ablehnung öffentlich zu Protokoll zu geben; die größte Oppositionspartei unternahm einen zumindest angedeuteten Versuch, die Sache "Seit an Seit" mit der AfD zum nächsten Kulturkampf-Thema hochzujazzen. 

Das Maß der inszenierten Aufregung war in der Sache durchaus überraschend. Denn das Gesetzgebungsprojekt wurde bereits im Koalitionsvertrag vom 7. Dezember 2021 formuliert (Abgabe in lizensierten Geschäften an Erwachsene) und seither von der Bundesregierung auch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die öffentliche Diskussion über eine Legalisierung dauert überdies bereits seit vielen Jahren an.

Soweit es die allgemeine Öffentlichkeit betrifft, sind nach Umfrageergebnissen die Meinungsgruppen ausgeglichen, wobei der Erregungspegel der Bevölkerung in dieser Frage bei weitem nicht den der Medien und der Politik-Darstellung erreicht: Den meisten ist es eher gleichgültig; überdies ist eine gewisse argumentative Erschöpfung eingetreten.

Zur Sache

Die Fakten liegen hinreichend offen; Forderungen nach umfangreicher weiterer Forschung oder wissenschaftlich begleiteten "Pilotprojekten" sind daher eher als taktische Verzögerungsversuche zu betrachten.

Cannabis ist ein Rauschmittel. Sein Konsum ist wie der aller anderen Rauschmittel dazu bestimmt, Räusche zu erzeugen, einen Zustand, auf den der gesunde Mensch verzichten kann, aber nicht unbedingt will. Cannabis hat, laienhaft gesagt, keine unmittelbar toxische Wirkung (etwa durch Zerstörung von Nervenzellen) und führt auch bei Überdosierung nicht zu lebensbedrohlichen Zuständen. Es kann aber, besonders bei häufigem Gebrauch, zu erheblichen psychischen Folgen führen, die sich auch chronifizieren können: Antriebslosigkeit, intellektuelle und emotionale Verflachung, Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Anforderungen. Körperliche Abhängigkeit ist nicht bekannt, psychische Abhängigkeit bei entsprechend disponierten Personen möglich. Schädliche Auswirkungen regelmäßigen Konsums sind namentlich bei Kindern und Jugendlichen zu erwarten.

Cannabis ist also keineswegs eine "harmlose" Alltagsdroge wie Kaffee oder Tee. Anders als Nikotin führt es zwar nicht zu schwersten körperlichen Schäden, behindert bei starkem Gebrauch aber die sozialen Kompetenzen in erheblichem Umfang. Alkohol – als sozial tolerierte und auch öffentlich geförderte Hauptdroge in Deutschland – verbindet beide Gefahren. Über die verheerenden Gefahren von Kokain und Kokainderivaten, Amphetamin- und Opiumderivaten sowie Opioiden muss hier nichts gesagt werden.

Weitgehend unzutreffend ist die Behauptung, dass Cannabis eine "Einstiegsdroge" sei – womit meist der Einstieg in den Konsum von "harten" Drogen gemeint ist. Diese Behauptung wird auch heute noch regelmäßig wiederholt. Tatsächlich verläuft ein biografischer Einstieg in "harte" Drogen in der Regel über Alkohol; auch bei Multitoxikomanie von Abhängigen spielt Cannabis im Gegensatz zu Alkohol eine nur untergeordnete Rolle, weil der Wirkstoff THC wenig geeignet ist, das süchtige Konsumbedürfnis zu befriedigen.

Cannabis erzeugt in der Regel keine Tendenz zur Dosissteigerung; vielmehr nimmt mit der Gewöhnung die zur Berauschung erforderliche Menge eher ab. Cannabisinduzierte Aggressionen und Aggressionsdelikte sind selten, weil die Droge eher Rückzug und Gleichgültigkeit verursacht.

Kultur

Rausch und Rauschdrogen sind ubiquitär und in jeder menschlichen Gesellschaft existent. Das Bestreben aller Gesellschaften war es daher, den Gebrauch von Rauschdrogen, der zum sowohl in ihren aktuellen Auswirkungen als auch in der sozialen Langzeitwirkung erheblich antisoziale Folgen haben kann (Lebenserwartung, Produktivität, Sozialverhalten), zu begrenzen und zu diesem Zweck möglichst zu ritualisieren: Konsum in religiösem Zusammenhang oder gebunden an ihrerseits sozial integrierende "Feiertage". Das gelingt bei "illegalen" Rauschmitteln per definitionem nicht, solange der Konsum nicht in ihrerseits faktisch legitimierten Zusammenhängen stattfindet. Als Beispiel für Letzteres kann, auch wenn es manche Kritiker erstaunen mag, gerade die amerikanische und europäische "Love & Peace"-Kultur der 60er Jahre genannt werden. 

Verbreitet ist weiterhin das Argument, Cannabis-Produkte seien für Deutschland "kulturfremd"; ihr Konsum könne sich daher nicht auf ein langfristig gewachsenes System der sozialen Integration stützen. Dieses Argument ist zwiespältig. Zum einen weist es darauf hin, dass verbreiteter THC-Konsum eine Gesellschaft keineswegs (fast) zwangsläufig schädigt oder zu massenhaften psychischen Erkrankungen führt. Zum anderen besteht zwischen der normativen Legalität und der sozialen Integration des Konsums eine Wechselwirkung, so dass eine Teillegalisierung keineswegs als bloße quantitative Ausweitung der subkulturellen "Szene" gedacht werden kann. Zum dritten stellt sich angesichts der empirischen Befunde – drei Millionen regelmäßige THC-Konsumenten; sehr geringe informelle Sanktionierung – die Frage, wie lange sich das Argument der "Kulturfremde" glaubhaft aufrechterhalten lässt. Es wirkt offenkundig verfehlt und sachwidrig, wenn es von Politikern mit glasigen Augen und erhobenen Trinkgefäßen vorgetragen wird. 

Prohibition

Schwer zu schlagendes Argument für eine Legalisierung ist das sprichwörtliche Elend und das offenkundige Scheitern der bisherigen Drogenverfolgungspolitik. Die Mehrzahl der Argumente und Stimmen gegen eine Teillegalisierung hören sich an, als gehe es um die Frage, ob Cannabis existieren oder nicht existieren solle. Das mutet an wie die vor 60 Jahren diskutierte Frage, ob Pornografie existieren dürfe, und atmet daher einen Hauch von Glaubenskrieg. Tatsache ist: Der Cannabiskonsum existiert, ist weit verbreitet und geht nicht dadurch weg, dass man sich das wünscht oder die Polizei die Handschuhfächer von Kraftfahrzeugen durchsucht oder Stromlieferanten die erstaunlichen Verbrauchswerte von Indoor-Plantagen melden.

Cannabis als Rauschmittel ist in der Mitte der deutschen Gesellschaft längst angekommen. Mehrere Millionen ordentliche Bundesbürger konsumieren es regelmäßig, noch mehr gelegentlich. Der eine sagt so, der andere so. Exzesse, Gewalttaten, Häufungen von dissozialen Unkontrollierbarkeiten sind nicht bekannt geworden. Eine (mittelmäßig witzige, aber) äußerst erfolgreiche Kino- und Fernsehfilm-Reihe ("Eberhofer-Krimi") mit Millionenpublikum führt seit zehn Jahren einen Cannabis-Dauerkonsumenten als lässige Sympathiefigur und den Helden (Bayerischer Polizeibeamter) als Gelegenheitskiffer vor. Dafür wird man in Deutschland 2023 nicht wegen § 111 StGB verfolgt oder nach dem JSchG indiziert, sondern mit Preisen ausgezeichnet.

Der Konsum von THC, namentlich unter jungen Menschen, steigt trotz Strafverfolgung kontinuierlich an. Kritiker einer Teillegalisierung setzen diesem Argument entgegen, eben deshalb müsse man, statt "nachzugeben", entweder noch schärfer verfolgen oder mehr präventive Aufklärung betreiben. Das ist ein Argument aus der Trotz-Kiste. Natürlich gilt: Wenn immer mehr Personen betrunken Auto fahren, ist das kein Argument dafür, dies zu erlauben. Aber es ist eben auch kein Argument dafür, das Oktoberfest unter Strafe zu stellen oder den gewerblichen Ausschank von Weizenbier mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu ahnden.

Vorzüge

Ein weiterer Blick sei den Vorzügen des Cannabiskonsums gewidmet. Die öffentliche/politische Diskussion tut so, als befinde man sich in einem psychiatrisch-kriminologischen Seminar. Menschen konsumieren Rauschmittel aber nicht, weil "in einer Studie" gestanden hat, dies sei zu empfehlen, sondern weil sie für sich höchstpersönlich einen außeralltäglichen Zustand (früher gern "Bewusstseinszustand" genannt) erreichen möchten: Großartigkeit, Assoziationsfähigkeit, Antrieb in scheinbar verborgenen Bereichen, Illusion von Fantasie. Außeralltäglichkeit also, bezogen auf das berauschte Individuum. Da liegen mancherlei Quellen und Geheimnisse des Rausches zwischen extremer Individualisierung und sozialer Auflösung.

Mit alldem setzt sich die aufgeregt bürokratische Cannabis-Kritik nicht auseinander. Zugleich kann der Bürger zur Belustigung Aufzeichnungen von Bundestagsreden von stark alkoholisierten Abgeordneten betrachten. Für eine wahrhaftige Diskussion ist erforderlich, die Vorzüge des Cannabiskonsums zu thematisieren, ohne zugleich reflexhaft den öffentlichen Zeigefinger vorzuführen. Das bedeutet nicht, die Gefahren zu verschweigen oder für einen Cannabiskonsum zu werben. Im Großen und Ganzen scheint mir, hat die deutsche Gesellschaft das verstanden.  

Justiz

Als vor 30 Jahren der Kieler Strafkammervorsitzende, spätere Bundesrichter und Bundestagsabgeordnete Wolfgang Neskovic in einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 GG) im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 1 GG und der THC-Prohibition den Begriff "Recht auf Rausch" verwendete, wurde er in der deutschen Justiz verhöhnt und als Ideologe sozialer Chaotisierung denunziert. Wie man damals wissen konnte und heute weiß, hatte er mit seiner Kritik am Prohibitionssystem weitgehend Recht.

Auch drei Jahrzehnte später beeilte sich der Deutsche Richterbund (DRB) kürzlich mit der Bekundung schwerer Bedenken gegen den Gesetzesvorschlag. Sie liegen leider wie üblich auf berufsständisch aufgeblasener und in der Sache wenig tiefschürfender Ebene: Es sei keine Entlastung von Ermittlungs- und Strafverfahren zu erwarten, sondern im Gegenteil eine weitere Steigerung des Kontroll- und Verfolgungsaufwands. Grundlage dieser Prognose ist, soweit ersichtlich, eine binnen kürzester Zeit generierte Analyse sämtlicher auch nur entfernt möglicher verfahrensrechtlicher Komplikationen und bürokratischer Erschwernisse, die im Entwurf verborgen sein könnten, falls er denn Gesetz werden sollte. Die Vorhersage, so meine ich, ist glatter Zweckpessimismus, verwendet als Verpackungsmaterial für die schlichte Weigerung, vom Gewohnten zu abstrahieren.

Das zusätzliche Argument, es würden bisher sowieso fast nur Taten im schwerkriminellen Handels- und Einfuhrbereich verfolgt, erscheint sogar unfreiwillig komisch und ist schon an sich ungeeignet, die Fortsetzung der Prohibition im bisherigen Umfang zu rechtfertigen.

Jugendschutz

Bleibt das Argument einer Aufweichung des Jugendschutzes. Es stützt sich auf die Annahme, der Erwerb von Cannabis werde für Kinder und Jugendliche leichter und daher quantitativ steigen, wenn er zum Eigenverbrauch von Erwachsenen legalisiert sei. Dies ist eine Gefahrprognose, die sich auf empirische Erfahrungen aus anderen Ländern nicht unbedingt stützen lässt. 15- bis 17-Jährige, die Cannabis konsumieren wollen, haben auch heute keine Schwierigkeiten, Zugang zu erlangen. Sie sind einem Schwarzmarkt ausgeliefert, der weder eine Wirkstoff- noch Qualitätskontrolle kennt, auf dem Cannabisprodukten regelmäßig hochgiftige und suchterzeugende Substanzen (z.B. Opium) beigemischt werden und der permanente Betrug durch "Strecken" auf jeder Handelsebene der praktische Geschäftsalltag ist.

Dass der illegale Schwarzmarkt durch die Teillegalisierung weitgehend verschwinden werde, kann nicht erwartet werden. Er wird aber nach dem vorgelegten Konzept, anders als in den Niederlanden, nicht als "Motor" des legalen Handels vorausgesetzt und gestärkt.

Ergebnis:

1. Cannabis ist eine Rauschdroge mit Vor- und Nachteilen. Der Konsum schafft soziale Chancen, aber auch Risiken.

2. Die prohibitive Cannabispolitik der vergangenen 60 Jahre ist vollständig gescheitert.

3. Die vorgeschlagene Teillegalisierung folgt einer sozialen Tolerierung und Legitimierung.

4. Das Kritiker-Argument einer "Kulturfremde" von Cannabiskonsum hat dramatisch an Gewicht verloren.

5. Gesundheitliche Gefahren verbreiteten Cannabiskonsums sind vorhanden, können jedoch durch das bisherige Konzept der Prohibition offensichtlich nicht gemindert werden. Ihre qualitative und quantitative Dramatisierung ist nicht sachdienlich. Cannabis ist nicht "harmlos", hat aber in der Regel weniger physiologische und psychologische Schadensfolgen als andere Rauschmittel.

6. Die Chancen einer Legalisierung überwiegen deren Risiken. Sie ist geeignet, die individuell und sozial vielfältig schädlichen Folgen der gescheiterten prohibitiven "Bekämpfung" zu mindern.

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 24.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52552 (abgerufen am: 09.12.2024 )

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