Die Erwartung an Staatsanwälte politisch unabhängig zu sein, ist weit verbreitet. Doch das Gesetz, die Weisungsgebundenheit und auch die eigene politische Meinung stehen dem entgegen. Thomas Fischer über Unabhängigkeit von Staatsanwälten.
Vorspann:
Regelung Nr. 1: § 152 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO)
"(Die Staatsanwaltschaft) ist, sofern nicht gesetzlich ein anderes bestimmt, ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen."
Regelung Nr. 2: § 160 Abs. 1 StPO
"Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen."
Regelung Nr. 3: § 153d Abs. 1 StPO
"Der Generalbundesanwalt kann von der Verfolgung von (Staatsschutzdelikten) absehen, wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde oder wenn der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen."
Regelung Nr. 4: § 146 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
"Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen."
Regelung Nr. 5: § 3 Abs. 3 Bundesbeamtengesetz (BBG)
"Vorgesetzte oder Vorgesetzter ist, wer dienstliche Anordnungen erteilen darf."
Einleitung
Im Vorspann sind eine paar Regelungen zitiert, die mit dem Thema der Frage zusammenhängen. Selbstverständlich gibt es eine Vielzahl weiterer Vorschriften (einschließlich Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1, 20 Abs. 2 und 3 Grundgesetz (GG), Art. 6 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)), die man in diesem Zusammenhang zitieren könnte. Die Zitate dienen der Erinnerung an einige Grundsätze:
- Die Staatsgewalt wird von "besonderen Organen" der Gesetzgebung (Legislative), der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) ausgeübt. Die "Besonderheit" dieser Organe bezieht sich in der Substanz nicht auf äußere Formen, sondern auf innere Verfasstheit.
- An der Spitze der Judikative und der Exekutive "verschmelzen" die Gewalt-Funktionen in den Leitungsbereichen der Landes- und Bundesministerien: Ein Justizminister ist als Exekutiv-Organ oberster Dienstvorgesetzter aller Staatsanwälte seines Geschäftsbereichs; zugleich ist er Teil einer Regierung, die wiederum auf komplizierte Weise von der Legislative abhängig und mit ihr verbunden ist.
Was bedeute "politisch"?
Eine vermutlich große, wenn nicht gar überwiegende Zahl von Menschen in Deutschland ist der Ansicht, die Konnotation einer Entscheidung als "politisch" sei wenig mehr als die Bezeichnung als sachfremd, voreingenommen, manipulativ oder gar korruptiv. Dem liegt allerdings ein sehr einseitiges und selektives Verständnis des Begriffs zugrunde, das im Wesentlichen am Bild des "Partei-Politischen" orientiert ist, also einer – unterstellt – einseitig interessenorientierten Sicht- und Verhaltensweise, die nicht Ziele des objektiven Allgemeininteresses verfolgt, sondern manipulativ Partikularinteressen dient.
Dass eine solche Perspektive faktisch existiert und annähend zwangsläufige Folge eines Systems Parlamentarischer Demokratie ist (vgl. Art. 21 GG), liegt auf der Hand. Hieraus ergibt sich aber nicht, dass die Sphären des "reinen" Rechts und Rechtsvollzugs und der "unreinen" Politik trennungsscharf auseinander gehalten werden können.
Recht, nicht zuletzt auch Strafrecht, ist stets "geronnene Politik", eine formelle Verstetigung von Regeln ("Tatbestand" und "Rechtsfolge"), die aus sozialen Interessen, Gegensätzen, Vereinbarungen entstehen und von einer so oder so legitimierten Macht formuliert (und durchgesetzt) werden. Ein "natürliches" (oder gar: übernatürliches) Recht, welches vom vernünftigen Menschen nur "erkannt" werden muss, um zur realen Geltung zu gelangen, gibt es nicht. Dass der Diebstahl, der Raub und der Totschlag strafbar sind, ergibt sich nicht "aus der Natur", sondern setzt voraus, dass es individuelles Eigentum, Selbstbestimmungs- und Lebensrecht gibt. Diese Voraussetzungen entstehen durch Politik, welche aufgrund zahlloser Umstände, Gegebenheiten, Strukturen und Funktionalitäten autoritative Normen hervorbringt. Strafverfahrensrecht wiederum ist "geronnenes Verfassungsrecht". Insoweit ist die Feststellung, ein zentrales staatliches Organ der Durchsetzung von Recht (Strafrecht) sei oder handele "politisch", eher trivial.
"Politisches" Strafrecht
Das gilt erst recht und evident in jenem Bereich, der als explizit "politisches Strafrecht" bezeichnet wird, also etwa die Abschnitte eins bis vier (§§ 80a bis 108e), aber jedenfalls teilweise auch fünf bis sieben (§§ 109 bis 145d) des "Besonderen Teils" des Strafgesetzbuchs (StGB). Die strafrechtliche Verfolgung etwa von Handlungen gegen den demokratischen Rechtsstaat, gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen die Funktionsfähigkeit staatlicher Institutionen und Organe ist ja überhaupt nur möglich, wenn "politische" Setzungen verstanden, nachvollzogen und umgesetzt werden. Soweit besondere Zuständigkeiten der Justiz im "Staatsschutzbereich" existieren (vgl. §§ 74a, 120, 142a StPO), ist hieraus nicht abzuleiten, dass der "sonstige" Bereich der Strafverfolgung "unpolitisch" sei, sein könne oder sein müsse.
Politische Beeinflussung
Viel näher an der Thematik unzulässiger oder unerwünschter partei-politischer Steuerung ist die Frage nach Möglichkeit, Umfang und Zulässigkeit von Einflussnahmen auf staatsanwaltschaftliche Entscheidungen vor allem aus dem Bereich der Exekutive, aber auch dem der Legislative.
Staatsanwaltschaften sind, im Bund wie in den Ländern, dem Justizressort zugeordnet, nicht dem Innenressort. Sie unterliegen aber – anders als Richter – nicht der verfassungsrechtlich verankerten Pflicht zur individuellen (!) "Unabhängigkeit" (Art. 97 Abs. 1 GG). Vielmehr sind Staatsanwälte Beamte und unterstehen im Inneren den Weisungen ihrer Dienstvorgesetzten. In der Außenwirkung vertreten Staatsanwälte stets die Behörde, für welche sie tätig werden; ihre konkreten Entscheidungen (Anträge, Verfügungen, Erklärungen) wirken für und gegen diese, auch wenn sie internen Weisungen widersprechen. Ein Staatsanwalt ist also nicht nur "Erklärungsbote" seines Dienstvorgesetzten, sondern sein Stellvertreter.
Ob die ersten Beamten der Staatsanwaltschaften bei den Oberlandesgerichten (Generalstaatsanwälte) "politische Beamte" (jederzeitige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand) sind oder nicht, ist in den Ländern unterschiedlich geregelt und rechtpolitisch umstritten. Die Frage steht im mindestens mittelbaren Zusammenhang mit derjenigen, ob und unter welchen Bedingungen die obersten Landes- und Bundesbehörden (Justizministerien) bzw. deren "politische" Spitze (Minister) den ihnen nachgeordneten Staatsanwaltschaften Weisungen (auch) in der konkreten Sachbearbeitung erteilen dürfen. Nach geltendem Recht ist dies der Fall.
Eine "Unabhängigkeit" der Strafverfolgungsbehörden besteht nicht; bei den Staatsanwaltschaften erfasst die Weisungsgebundenheit ausdrücklich auch den Bereich konkreter Sachentscheidungen (§ 146 GVG).
Ministerielle Weisungen in konkreten staatsanwaltschaftlichen Verfahren sind in der Praxis äußerst selten, denn sie sind rechtspolitisch in hohem Maß umstritten und sorgen fast regelmäßig zu medial unvorteilhaften Darstellungen und Vermutungen und politisch-parlamentarischer Skandalisierung (Untersuchungsausschüsse!); überdies befördern sie all verbreitetes Narrativ einer unfairen, manipulativen Steuerung durch "die da oben".
Steuerung durch Berichtswesen
Das Ausbleiben von Weisungen im engeren Sinn bedeutet allerdings nicht, dass eine Steuerung unterbleibt. Sie wird insbesondere im Wege des "Berichtswesens" betrieben, also der Verpflichtung unterer Behörden (Staatsanwaltschaften), an die jeweils übergeordnete Behörde (Generalstaatsanwaltschaft, Ministerium) auf dem Dienstweg "zu berichten". Dabei ist zwischen allgemein angeordneter Berichtspflicht und anlassbezogenen Berichten zu unterscheiden, weiterhin zwischen Ergebnisberichten und Absichtsberichten: Die ersten teilen mit, was entschieden wurde bzw. "herausgekommen" ist; die Letzteren, was beabsichtigt sei zu tun, oft mit dem expliziten oder konkludenten Hinweis, es werde um Billigung gebeten.
Auch ohne eine solche Anfrage kann die vorgesetzte Behörde aber stets ihre ggf. abweichende Ansicht "mit der Bitte um Berücksichtigung" darlegen oder – im Einzelfall – formulieren, es werde "angeregt / gebeten, entsprechend zu verfahren". Es gibt hier zahlreiche Abstufungen, die dem Begriff einer Weisung im engeren Sinn nicht unterfallen.
Um (partei)politische Skandalisierungen oder Verdächtigungen zu vermeiden, werden entsprechende Vorgänge in den meisten Fällen auf der Ebene der Abteilungsleitung oder des (beamteten) Staatsekretärs entschieden und von der Person des Ministers ferngehalten. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Individuelle "Politisierung"
Staatsanwälte sind, wie alle Beamten, Bürger mit (fast) allen grundrechtlichen Freiheiten. Sie sind nicht Bedienstete eines Dienstvorgesetzten oder Ministers, sondern des Staats. Ihre persönliche Meinungsfreiheit ist nicht eingeschränkt, auch wenn sie im Hinblick auf öffentliche Stellungnahmen, (partei)politische Betätigungen und Auskünfte an Presseorgane den beamtenrechtlichen Zurückhaltungspflichten unterliegen (siehe z.B. § 60 Abs. 2, § 70 Bundesbeamtengesetz).
Dass individuelle Menschen ebensolche "Einstellungen", Weltsichten und im, weiteren Sinn politische Ansichten haben, ist selbstverständlich. Die Annahme, Staatsanwälte seien verpflichtet oder in der Lage, einen quasi maschinellen Vollzug starrer Verfahrensregeln ohne wertenden Einfluss zu vollziehen, ist daher fernliegend. Staatsanwälte sind Gesetz und Recht verpflichtet; sie haben die ihnen zugewiesenen Aufgaben nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ohne Rücksicht auf politische Anschauungen zu erfüllen. Zu den grundlegenden verpflichtenden Regeln gehören namentlich auch die prozessualen Vorschriften über die Pflicht zur sachlich neutralen, unvoreingenommenen Ermittlung des Sachverhalts (und seiner Bewertung).
So lange die Spanne der normativen, bewertungsabhängigen Entscheidungen sich in einem vertretbaren, mit der Verfassung vereinbaren Rahmen bewegt, ist ein Einfluss "politischer" Beurteilungen auf individuelle staatsanwaltschaftliche Entscheidungen weder illegitim noch überhaupt vermeidbar. Eine autoritäre "Gleichschaltung" und Festlegung der Beamten der Staatsanwaltschaft auf bestimmte (partei)politische Sichtweisen und Beurteilungen wäre mit unserer Vorstellung einer rechtsstaatlichen Gewalt nicht vereinbar.
Im Grenzbereich mag eine an "Korpsgeist" und informellem Druck (behördeninternes Ansehen, Beförderungschancen; informelle Machtstrukturen) orientierte innere "Kultur" liegen, die nicht immer ausgeschlossen werden kann. Ihr zu widerstehen, ist nicht nur richtig verstandene persönliche Pflicht, sondern auch im Interesse der Sache äußerst empfehlenswert: Wenig ist so sehr fehleranfällig wie eine Struktur einseitig festgelegter inhaltlicher "Korrektheit".
Ergebnis
- Strafrecht und Strafverfahrensrecht sind ihrer Natur nach "politisch".
- Anwendung politischen Strafrechts im engeren Sinn setzt entsprechende Bewertungen voraus.
- Staatsanwälte sind weisungsgebundene Beamte und auch in der Sacharbeit letztlich politisch legitimierten und entscheidenden obersten Dienstvorgesetzten nachgeordnet.
- Parteipolitisch motivierte Steuerungen staatsanwaltschaftlicher Sacharbeit und Entscheidungen sind in hohem Maß legitimitätsgefährdend.
- Individuell unterschiedliche politische "Einstellungen" sind unvermeidlich und im Hinblick auf die Verpflichtung von Staatsanwälten zu objektiver, neutraler Tätigkeit nicht bedenklich.
- Im engeren Sinn politisch orientierter Korpsgeist und hiervon beeinflusster Ergebnisdruck kommt vor, mindert die Qualität und erhöht die Fehleranfälligkeit.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 03.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52133 (abgerufen am: 09.12.2024 )
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